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Corporate Culture: Wie tickt ihr wirklich? Ein Leitfaden zur Analyse von Unternehmenskulturen

Posted in Employer Branding, Mission Sustainable, Organisationsentwicklung, and Unternehmenskultur

Corona sei Dank: Der Handschlag verliert an Relevanz bei der Beurteilung von Bewerber:innen! Bekanntlich ist der erste Eindruck nicht zu unterschätzen und dieser ging beim Vorstellungsgespräch im wahrsten Sinne des Wortes Hand-in-Hand mit einem Händedruck. Für Bewerber:innen hieß das, die Hand vor dem Gespräch noch schnell zu trocknen und auf eine angenehme Temperatur herunter- oder hochzufahren, die Hand im richtigen Moment im richtigen Winkel auszustrecken und beim Schütteln einen kurzen und festen Druck auf die Hand des Partners ausüben. Natürlich ohne dabei hektisch zu wirken oder Schmerzen beim Gegenüber zu erzeugen. Den Personaler:innen oblag es dann, aus diesem Händedruck in Sekundenschnelle auf Charaktereigenschaften wie Entschlossenheit, Rücksichtslosigkeit, Selbstbewusstsein und Zielstrebigkeit zu schließen und diese Eigenschaften mit dem Anforderungsprofil abzugleichen.

Manch einem Bewerbenden stand der Schweiß schon auf die Stirn – geschweige denn auf die Hand – geschrieben, wenn er oder sie nur ans Händeschütteln dachte. Ist durch das Aussetzen des Händeschüttelns viel für die Personalauswahl verloren gegangen? Wohl kaum. Nach einem festen Händedruck wussten die Personalentscheidenden nichts über die Intelligenz, Kreativität oder Zahlenaffinität der Bewerber:innen. Sie wussten höchstens, dass die potenziellen neuen Mitarbeiter:innen besser im Händeschütteln waren. Und – würden sie sich später oft verrechnen oder ideenlos bleiben – vielleicht wären sie dabei entschlossener, zielstrebiger und selbstbewusster als andere.

Die Bedeutung des Handschlags lag auch vor seiner Ersetzung durch keimfreiere Begrüßungsformen vor allem im kulturellen Bereich: Seine Beurteilung diente zum Abgleich mit Rollenerwartungen an das Auftreten, Eigenschaften und Umfangsformen der Bewerbenden als künftige Repräsentanten oder Führungskräfte des Unternehmens. Das Händeschütteln einfach zu überspringen, wäre in den meisten Unternehmenskontexten ein unverzeihlicher Fauxpas gewesen. 

Vorbei! Covid19 hat eine neue Normalität geschaffen, in der das einst für friedliche Absichten und gute Umgangsformen stehende Begrüßungsritual verpönt ist. Wer es doch tun will, gilt schnell als ungebildet, unhygienisch, grob fahrlässig oder verantwortungslos. In anderen Kulturkreisen kann ein starker Händedruck im Übrigen schnell grob und unhöflich wirken oder das Händeschütteln (insbesondere zwischen verschiedenen Geschlechtern) gänzlich unangemessen sein. Das gleiche Ritual kann eben je nach Kontext völlig unterschiedlich interpretiert werden, seine einstige Bedeutung verloren gegangen oder umgedeutet worden sein.

I. Unternehmenskultur und Personalauswahl

In Vorstellungsgesprächen wird die Unternehmenskultur oft explizit thematisiert. Bewerber fragen danach, Unternehmen werben mit ihr und vertrauen darauf, dass Mitarbeitende aus einem ähnlichen Umfeld (z.B. Start-up oder Konzern) sich leichter in die Organisation einfinden – Stichwort Cultural Fit.

Doch wie lässt sich das oft schwammige Konzept Kultur für die Auswahl und Selbstbeschreibung überhaupt fassen? Im letzten Beitrag habe ich mich bereits mit verschiedenen quantitativen und vergleichenden Ansätzen zur Beschreibung und zum Vergleich von Unternehmenskulturen beschäftigt. Heute geht es noch einmal um die Bestimmung der IST-Kultur, und zwar um die Beschreibung individueller Organisationkulturen, für die sich qualitative Methoden oft besser eignen. Wer einen Überblick über unterschiedliche Methoden zur Kulturanalyse gewinnen will, dem empfehle ich die Bücher von Sonja Sackmann (2017), Edgar Schein (2018) sowie Danielle Braun/Jitske Kramer (2018), die ihr in den Literaturtipps findet. Neben standardisierten Befragungen gibt es u.a. die Möglichkeit, Informationen durch die Begehung des Unternehmens, Interviews, Workshops, Dokumentenanalysen oder teilnehmende Beobachtung zu gewinnen. 

II. Analyse der IST-Kultur – 3 Ebenen

Unternehmenskultur entsteht im täglichen Miteinander, wenn ausgehandelt wird, wie Arbeitsprozesse ablaufen sollen, welche Tools eingesetzt werden und wie richtiges Verhalten bei der Lösung von Aufgaben und Problemen innerhalb der Gruppe und im Austausch mit außenstehenden Stakeholdern aussieht. Es geht also sehr stark um Beziehungs- und Erwartungsmanagement. Die Antworten, die jedes Unternehmen auf diese Fragestellungen findet, können in Abhängigkeit von der Branche, der Unternehmensgröße, dem Zweck und Ziel der Organisation sehr unterschiedlich und individuell ausfallen. 

Der Organisationspsychologe und -entwickler Edgar Schein unterscheidet in „Organisationskultur und Leadership“ (2017) drei Ebenen von Kultur:  Die Ebene der sichtbaren Artefakte, die Ebene der bewusst ausgewählten Werte und Überzeugungen und die Ebene der unbewussten, grundlegenden Annahmen, die unsere Wahrnehmung, unser Denken und unsere Gefühle steuern und die Basis für Wertvorstellungen und Handlungen bilden. Darüber habe ich unter anderem hier schon ausführlicher geschrieben. Die Untersuchung der eigenen Unternehmenskultur kann daher zunächst an den drei Ebenen ausgerichtet werden.

Die Ebene der Artefakte lässt sich leicht beobachten: Wie laufen Meetings ab, wie sind die Arbeitsräume gestaltet, welche Dresscodes gibt es, wie sehen Betriebsfeiern aus? Meist gibt es Abbildungen der Aufbau- und Ablauforganisation, die Auskunft über die vorgesehenen Hierarchien im Unternehmen geben. Stark prägend für die Unternehmenskultur und leicht zu beschreiben sind auch die Technologien und Tools, die im Alltag verwendet werden (sollen). Etwas schwieriger wird es, zu den Mythen, Geschichten und durch die Flure spukenden (ehemaligen) Held:innen sowie den informellen Netzwerken vorzudringen.

Die bewusst gewählten Überzeugungen und Werte bilden die Unternehmensphilosophie oder -ideologie. Sie beschreiben die Wertvorstellungen, Prioritäten und Standards der Soll-Kultur, warum es das Unternehmen gibt, wie seine Zukunftspläne aussehen, ob es jenseits von Gewinnstreben beansprucht, einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft oder Welt zu leisten und wie es seine Ziele erreichen will. Wenn die bewusst gewählten Werte verschriftlicht als Artefakte vorliegen (z.B. Unternehmensleitbild auf der Website, im Code of Conduct), kann hierüber ein Zugang zu den bewusst gewählten Werten und Annahmen gefunden werden. Und natürlich macht es bereits einen Teil der Unternehmenskultur aus, ob es überhaupt eine verschriftliche Vision, Mission, Werte, Ziele und Verhaltensrichtlinien gibt bzw. wie klar diese im Alltag kommuniziert werden.

Zur Ermittlung und Analyse der sichtbaren Artefakte und bewusst gewählten Werte und Überzeugungen können auch standardisierte Methoden herangezogen werden.

Den Kern einer Kultur bilden die unbewussten Grundannahmen, die von den Mitgliedern einer kulturellen Gemeinschaft kaum noch hinterfragt werden. Dazu gehören zum Beispiel Auffassungen, wie Beziehungen zwischen Chef:in und Mitarbeiter:in oder zwischen Kolleg:innen aussehen sollten, Rollenerwartungen an unterschiedliche Geschlechter, Auffassungen von Raum und Zeit. Diese grundlegenden Annahmen beeinflussen die Wahrnehmung, die Emotionen und das Denken und sind stark makrokulturell geprägt. Ein Zugang zur Ebene der unbewussten, grundlegenden Annahmen ist nicht ganz einfach und kann nur durch aufmerksame Beobachtung, fokussierte Befragungen und Selbstbeschreibungen der involvierten Mitarbeiter:innen gelingen.

Die drei Ebenen können sich in ihrer inhaltlichen Bedeutung gegenseitig verstärken, aber auch wirkungslos nebeneinander existieren oder sogar widersprechen. Spiegeln das Organigramm, Stellentitel, die Sitzordnung in Meetings oder die Einzelbüros für Führungskräfte wirklich die in den Stellenanzeigen gepriesenen „flachen Hierarchien“ (Buzzword-Alarm) wider? Wer kennt eigentlich den Code of Conduct? Spielt Nachhaltigkeit im Unternehmensalltag eine Rolle oder nur in verpflichtenden Reports für Finanzgeber? 

Fehlinterpretationen von Artefakten durch außenstehende Beobachtende liegen zudem nahe, da wir die Welt stets auf Basis unserer eigenen Kulturmuster interpretieren und nicht wissen, welche Bedeutungen die jeweilige Gemeinschaft dem Artefakt beimisst und ob es überhaupt (noch) eine geteilte Bedeutungszuschreibung gibt. Bei hoher Fluktuation kann die ursprüngliche Bedeutung (z.B. wir haben Großraumbüros, um die Kommunikation zu fördern) verloren gegangen sein. Es gilt also z.B. herauszufinden, ob die Raumaufteilung zufällig, gewollt – oder jetzt neu – durch pandemiebedingte Regelungen entstanden ist. Unabhängig von der Ursache lässt sich natürlich auch untersuchen, wie sich die Arbeitsräume auf die Mitarbeitenden auswirken und welche Veränderungen sich gestalten lassen, um die Soll-Kultur zu fördern.

III. Inhaltlicher Fokus der Kulturanalyse:

Die wichtigsten inhaltlichen Fragestellungen der unternehmensindividuellen Kulturanalyse gruppieren sich zum einen um den historischen Ursprung, das Warum, der Organisation, wie sie ihre Ziele erreichen und ihr Überleben sicherstellen will. Zum anderen geht es um die Ausgestaltung der internen und externen Beziehungen der Gruppe, wie Macht verteilt wird und welcher Grad an Nähe bzw. Distanz zwischen ihren Mitgliedern erwünscht ist. Welche Verhaltensweisen zwischen Kolleginnen und Kollegen, Führungskräften und Mitarbeitenden lassen sich beobachten? 

Der folgende thematische Leitfaden kann euch Anregungen geben, wie ihr aktiv eine Selbstbeschreibung eurer individuellen Organisationskultur erfragen könnt, wobei die inhaltlichen Schwerpunkte sich nicht immer klar trennen lassen.

1. Back-to-the-roots, Why & How

Oft liegen die Wurzeln der Unternehmenskultur in der Vergangenheit. In der Gründungsphase wird die Organisationskultur stark durch die Gründer:innen geprägt, die ihre eigenen bewussten oder unbewussten Überzeugungen und Erfahrungen mitbringen. Daher macht es Sinn, sich bei einer Untersuchung der Unternehmenskultur zunächst mit der Entstehungsgeschichte und den Gründungsmythen der Organisation zu beschäftigen. Haben sich die Gründer:innen selbst als revolutionär, umweltbewusst, bodenständig, traditionsbewusst beschrieben? Oder ist es vielleicht nicht (mehr) klar, wofür die Gründer:innen standen?

Auch der Einfluss späterer Entwicklungsphasen, schnelles Wachstum, Krisen, Joint Ventures oder Führungswechsel an der Spitze reiferer Unternehmen sollten im Hinblick auf damit verbundenen Kulturveränderungen in die Untersuchung einbezogen werden. Welche Helden und Erfolgsgeschichten geistern noch herum, auch wenn die Protagonisten das Unternehmen längst verlassen haben? Was ist im Zuge organisationaler Veränderungen (teilweise) verloren gegangen?

Die Entstehungsgeschichte eines Unternehmens bietet auch Antworten auf die Frage nach dem Warum des Unternehmens. Wie rechtfertigt die Organisation ihr Bestehen und wovon hängt ihr Fortbestand ab? Worauf baut das Unternehmen seine Strategie auf? Stellt sie das Wohl des Kunden in den Fokus seiner Aufmerksamkeit? Wie wichtig ist die Qualität im Vergleich zum Preis und der Schnelligkeit der Lieferung? Wird bei den Produkten und Dienstleistungen eher auf Bewährtes gesetzt oder werden Innovationen angestrebt? Wie leistungsorientiert ist die Organisation?

Zu den Wurzeln des Unternehmens könnt ihr z.B. über die Analyse von Dokumenten, eine Befragung der Gründer oder von Mitarbeiter:innen, die von Anfang an dabei waren, vordringen.

2. Interne & externe Beziehungen

Die Unternehmenskultur wirkt sich über den Führungsstil, die zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz sowie Konzepte zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben stark auf die Attraktivität des Unternehmens und die Arbeitszufriedenheit aus. Sie beeinflusst auch die Motivation der Mitarbeitenden, wenn sie die Grundlagen für eine interessante Ausgestaltung der Arbeitsinhalte, das Ermöglichen von Erfolgserlebnissen und Entwicklungsmöglichkeiten, eine Wertschätzung der Mitarbeitenden sowie gegenseitiges Vertrauen schafft. Ferner zeigt sich Unternehmenskultur auch im Verhalten gegenüber Externen wie Kunden, Mitbewerbern, Dienstleistern und Partnern und in welchem Maße ein Unternehmen auch die ökologischen und sozialen Folgen in sein Handeln einbezieht.

A. Hierarchien & Strukturen

Kulturen unterscheiden sich nicht zuletzt dadurch, wie Macht verteilt wird und welche formellen und informellen Regeln es gibt, die das Verhalten zwischen Personen unterschiedlicher oder gleicher Hierarchieebenen festlegen. 

Ein Organigramm beschreibt die formellen Hierarchien und gibt einen ersten Eindruck von der Machtverteilung über unterschiedliche Ebenen, aber auch, welche Abteilungen vermutlich einen größeren Einfluss haben und welche von untergeordneter Bedeutung sind. Die Ressourcenverteilung kann hier weitere Hinweise geben: Wofür wird Zeit und Geld zur Verfügung gestellt, wofür eher nicht?

Die tatsächliche Machtverteilung kann allerdings vom Organigramm abweichen, z.B. wenn einzelne Mitglieder aus höheren Ebenen an Ansehen verloren haben oder andere durch ihre Leistung oder besondere Kenntnisse größeren Einfluss gewinnen konnten. Durch Freundschaften, Verwandtschaftsbeziehungen oder langjährige Zusammenarbeit können zudem informelle Kommunikations- und Entscheidungswege entstehen. 

Hierarchische Unterschiede kommen oft in Kleinigkeiten zum Ausdruck, seien sie gewollt oder ungewollt. Beispiele hierfür sind die Sitzordnungen in Meetings oder der Kantine (wer darf überhaupt mit wem zum Mittagessen gehen?), eine gehobene Büroausstattung, Einzelbüros, ein Parkplatz direkt vor dem Bürogebäude und sonstige Privilegien. 

Interessant kann es sein, den Ablauf von Meetings genauer unter die Lupe zu nehmen: Welche Abteilungen sind in wichtigen Meetings vertreten, welche nicht? Wer darf die einzelnen Abteilungen vertreten? Sind alle Sitzplätze am Tisch gleich oder ist es klar, welcher Sitzplatz nur von der Chefin eingenommen werden darf? Welche Rolle spielt Pünktlichkeit im Unternehmen? Gibt es Sanktionen für das Zuspätkommen und wie sehen diese aus (vom Geld ins Sparschwein bis zur Abmahnung)? Wer darf wen warten lassen und wie lange? Stellen wir uns zum Beispiel vor, eine Praktikantin kommt zu spät zu einem wichtigen Meeting, in dem sie das Protokoll führen soll. Muss sie sich schuldiger fühlen und erfährt sie die gleiche Reaktion von den Anwesenden wie die zu spät kommende Chefin? Ist der Redeanteil gleichmäßig verteilt oder gibt es eine Ordnung in Abhängigkeit von Position, Abteilung, Alter, Geschlecht oder Unternehmenszugehörigkeit?

Auch Entscheidungsfindungsprozesse verraten viel über Hierarchien. Wie viele hierarchische Ebenen müssen bei einer Entscheidung einbezogen werden, entscheidet der Vorgesetzte am Ende alleine kraft Autorität, braucht es für eine Entscheidung einen Konsens oder Konsent? Wie lange darf eine Entscheidungsfindung dauern, bis der oder die Chef:in ein „Machtwort“ spricht?

B. Definition guter Führung

Unternehmenskultur entsteht und verändert sich durch die Mitarbeitenden. Jede:r ist grundsätzlich Kulturträger:in und kann Einfluss auf die Kultur nehmen. Leichter ist es allerdings für das das Top-Management und die Führungskräfte, da sie als Vorbilder fungieren und definieren können, was als kulturell adäquates oder abweichendes Verhalten gilt. Um in der Organisation erfolgreich zu sein und voranzukommen, orientieren Mitarbeitende ihr eigenes Verhalten oft an dem ihrer Vorgesetzen.

Die kulturellen Werte, durch die das Unternehmen geprägt ist, definieren auch, was gute Führung ausmacht: Wird Kooperation und Bescheidenheit positiv bewertet oder Autorität und Durchsetzungsvermögen? Sollte eine Führungskraft eher Coach oder Captain sein? Welcher Grad an Nähe und Distanz wird als angemessen betrachtet? Ist Feedback lediglich als Gefälle von oben nach unten denkbar oder darf Lob und Kritik auch gegenüber Vorgesetzten geäußert werden? Ist Vertrauen gut, aber Kontrolle besser?

Partizipation wirkt sich positiv auf die Mitarbeitermotivation und Arbeitszufriedenheit aus. Damit in Verbindung steht die Frage, in welchem Maße Führungskräfte die Richtung alleine definieren oder Mitarbeitende in Planungsprozesse oder Entscheidungen einbeziehen. Werden Mitarbeitende umfangreich informiert und um ihren Input gebeten? Wird auch die Meinung introvertierter Mitarbeitender eingeholt, z.B. durch anonyme Ideensammlungen? 

Auch von den Arbeitsinhalten geht eine hohe motivationale Kraft aus. Daher ist es auch wichtig zu prüfen, wer die anfallenden Aufgaben wie verteilt und welcher Grad an Selbstorganisation innerhalb des Unternehmens oder in den einzelnen Abteilungen möglich ist. Haben die Mitarbeiter:innen klar umrissene Verantwortungsbereiche und können sie ihren Arbeitsalltag innerhalb dieser selbst organisieren und Aufgaben priorisieren? Oder müssen sie darauf warten, dass ihnen eine Führungskraft regelmäßig Arbeitspakete oder einzelne To-dos zuweist? Wie frei sind sie in der Gestaltung des zeitlichen Rahmens für die Abarbeitung der vorgegebenen Aufgaben?

Nicht zuletzt ist Führung untrennbar mit dem Thema Kommunikation verbunden.

C. Kommunikation

Kommunikation ist ein zentrales Gestaltungselement von Kultur und sagt viel über die zwischenmenschlichen Beziehungen und Machtverhältnisse aus. 

Sprache 

Ein Blick auf die Sprache verrät bereits einiges über die gewünschte Intimität von Beziehungen: Ist die Ausdrucksweise gegenüber Vorgesetzten formeller und distanzierter oder genauso umgangssprachlich und freundschaftlich wie zwischen engen Kolleg:innen? Wird Wert auf eine sachliche, professionelle Kommunikation gelegt oder darf der Ton im Eifer des Gefechts auch mal rauer werden? Wer darf wen anschreien? Wer duzt wen, gibt es Unterschiede hinsichtlich Alter, Hierarchieebenen, Abteilungen, Geschlechtern? Welche Art von Witzen ist zwischen den unterschiedlichen Personengruppen erlaubt, wer darf mit wem Witze machen und worüber? Müssen Emails zwingend eine Anrede enthalten und welche Anredeformen werden verwendet?

Durch Sprachbarrieren können zudem Subkulturen entstehen und Mitarbeitende begünstigt oder benachteiligt werden. Welche Sprachen werden im Unternehmen offiziell und inoffiziell gesprochen, gibt es eine oder mehrere Corporate Languages? Welcher Fachjargon herrscht vor, welche typischen Sprachcodes und Abkürzungen lassen sich beobachten, die für Außenstehende unverständlich sind?

Kommunikationswege & Tools:

Der Grad der Digitalisierung im Unternehmen sowie die verwendeten Kommunikationstools spielen ebenfalls eine Rolle: Wird noch viel telefoniert, trifft man sich eher zu persönlichen Meetings, werden Video-Calls bevorzugt, gibt es schnelle Kommunikation über Chats, wird tatsächlich noch gefaxt? Fördern die vorhandenen Tools die Zusammenarbeit und den Wissenstransfer im Team oder Einzelleistungen und die Monopolisierung von Informationen? 

Auch die Richtung der Kommunikation spielt eine Rolle. Ist festgelegt, wer wen auf welchen Kommunikationswegen kontaktieren oder wer wem ein Meeting einstellen darf? Wer traut sich wem (und in welchem Kreis) zu widersprechen? Findet Kommunikation eher als einseitige Information von oben nach unten statt oder haben Mitarbeitende die Möglichkeit, Fragen zu stellen und eigene Vorschläge einzubringen? Wie standardisiert und kontrolliert oder spontan und ungelenkt läuft Kommunikation ab, wie öffentlich oder anonym findet ein Austausch statt? 

Kommunikationswege geben auch Auskunft über Machtverhältnisse und Spannungen im Unternehmen. Wer spricht mit wem, wo und wie worüber? Ist es legitim, auch mal den „kurzen Dienstweg“ zu nehmen oder muss die Kommunikation immer über den Abteilungsverantwortlichen laufen? 

Inhalte 

Interessant ist auch ein Blick auf die Kommunikationsinhalte und in welchem Ausmaß Mitarbeiter:innen über die Unternehmensplanung, -entwicklungen und wichtige Entscheidungen informiert werden. Die Weitergabe relevanter Informationen fördert die Partizipation und das Vertrauen bei den Mitarbeitenden, während fehlende Transparenz zu Unzufriedenheit führen kann.

Noch informativer für die Analyse der Unternehmenskultur als die tatsächlichen Kommunikationsinhalte ist oft, worüber nicht gesprochen werden darf. Welche Geheimnisse werden als notwendig angesehen? Welche Themen sind grundsätzlich tabu, an welchen Schräubchen darf in Veränderungsprozessen nicht gedreht und welcher Stein nicht umgedreht werden? Wann erhitzen sich die Gemüter? Oft findet sich hier der Kulturkern mit seinen unbewussten Annahmen und Überzeugungen.

Bei der täglichen Zusammenarbeit kann es zu Meinungsverschiedenheiten sowie offenen oder versteckten Konflikten kommen. Unternehmenskulturen unterscheiden sich bei der Frage, wie mit Konflikten und unterschiedlichen Ansichten am besten umgegangen werden soll. Wird bei Konflikten eine offene Ansprache oder Totschweigen bevorzugt, sollen Meinungsverschiedenheiten durch Diskussionen und das Überzeugen der Gegenseite beseitigt werden oder die klare Ansage einer höheren Instanz?

Auch an Reaktionen auf Fehler, Probleme (ist das Wort überhaupt erlaubt?) oder nicht regelkonformes Verhalten unterscheiden sich Unternehmenskulturen. Muss als erstes immer ein Schuldiger identifiziert werden oder wird direkt nach Lösungen gesucht? Wie schnell werden formelle Sanktionen wie Ermahnungen und Abmahnungen eingesetzt, um Fehlverhalten zu sanktionieren?

D. Leistung und Zusammenarbeit

Unternehmenskulturen können sich auch darin unterscheiden, wie Leistung und Erfolg definiert und bewertet werden. Zeigt sich Leistung in langen Arbeitszeiten und Überstunden, der Präsenz vor Ort oder zählen nur die Ergebnisse? Was ist wichtiger – Schnelligkeit oder Qualität? Wird das einfache Abarbeiten von Aufgaben oder das Hinterfragen von Bestehendem als größere Leistung bewertet? Müssen Entscheidungen auf der Basis von Zahlen, Daten und wissenschaftlichen Fakten getroffen werden oder ist ein stimmiges Bauchgefühl wichtiger?

Wer bewertet überhaupt wen? Ist es das Privileg der Führungskräfte, ihre Mitarbeitenden zu bewerten oder gibt es 360-Grad-Feedbacks? 

Auch wie Leistung gefördert werden soll, ob auf Teamgeist oder Konkurrenz gesetzt wird, Schwarmwissen oder Experten-Knowhow, Anreize oder Druck, unterscheidet Unternehmenskulturen. Muss jede:r alleine zurechtkommen, selbständig arbeiten oder ist es erlaubt, andere um Unterstützung zu bitten?

Hinweise über die gewollten oder ungewollten kulturellen Werte eines Unternehmens lassen sich dabei oft von Vergütungssystemen und Beförderungen ablesen: Wird die Teamleistung durch Sonderzahlungen belohnt oder Individualleistungen? Gibt es Überstundenzuschläge, weil Leistung vor allem in der Dauer der Arbeitsleistung liegt? Führt eine längere Betriebszugehörigkeit oder der Familienstand zu höheren Gehältern oder mehr Urlaubstagen oder entscheidet lediglich die Leistung des Einzelnen über die vertraglichen Konditionen? Wie spiegelt sich die Machtverteilung von Ebenen und Abteilungen in der Gehaltsstruktur wider? Entscheidet die Betriebszugehörigkeit, die Berufserfahrung, das Expertenwissen, Soft Skills oder Familienbande über Beförderungen? Werden Mitarbeitergruppen bewusst oder unbewusst aufgrund individueller Merkmale (z.B. Alter, Geschlecht, Familienstand ect.) von Beförderungen ausgeschlossen oder bevorzugt?

E. Raum 

Die Räume, in denen wir arbeiten, können viel über Hierarchien verraten. Ein Beispiel hierfür ist die „Chefetage“, die sich traditionell im oberen Teil des Bürogebäudes befindet. 

Ähnlich wie Dresscodes können Räume auch Hinweise darauf geben, wieviel Privates am Arbeitsplatz erlaubt ist, inwiefern Mitarbeitende ganz sie selbst sein dürfen oder Rollenerwartungen entsprechen müssen. Dürfen private Bilder und Gegenstände den Schreibtisch zieren oder widerspricht das der CI? Ist ein unaufgeräumter Schreibtisch ein Zeichen für Kreativität oder verstößt der Mitarbeitende damit gegen die Clean-Desk-Policy? Warum ist das so? Geht es um Ordnung oder um Sicherheit bzw. den Schutz vertraulicher Unterlagen? Die Raumgestaltung und das Mobiliar kann auch Auskunft darüber geben, welche Rolle das betriebliche Gesundheitsmanagement (ergonomische Stühle, höhenverstellbare Tische) oder Antidiskriminierung und Integration (z.B. durch Barrierefreiheit) eine Rolle innerhalb der Unternehmenskultur spielen.

Die Flexibilisierung von Raum und Zeit gilt als einer der wichtigsten unternehmenskulturellen Faktoren zur Steigerung der Arbeitgeberattraktivität – Stichwort Work-Life-Balance. Eine hohe Flexibilität von Raum und Zeit setzt wiederum ein ausreichendes Maß an Selbstorganisation und Eigenverantwortung bei den Mitarbeitenden und von Seiten des Unternehmens Vertrauen voraus. Wo wir arbeiten, ob z.B. im Open Space gearbeitet wird oder die Arbeit hinter verschlossenen Türen stattfindet, nimmt auch darauf Einfluss, wie wir zusammenarbeiten, kommunizieren und Mitarbeitende geführt werden können. Manche Unternehmen verzichten mittlerweile ganz auf eigene Büroräume oder feste Arbeitsplätze für ihre Belegschaft. Die Arbeit wird dadurch zunehmend unsichtbar, die Zusammenarbeit verlagert sich in den digitalen Raum und seine Kommunikationswege. Wie sich die Dezentralisierung des Arbeitsraumes durch Remote Work auf die Arbeits- und Unternehmenskultur auswirkt habe ich hier schon einmal ausführlich beschrieben. 

F. Zeit

Unsere Wahrnehmung der Zeit wird durch die uns umgebende Makrokultur, Kalender, Jahreszeiten und Feiertage geprägt. Aber auch Unternehmen haben ihre eigene Zeitrechnung. Das Geschäftsjahr fällt nicht immer mit dem Kalenderjahr zusammen, und die zeitliche Gliederung des Wirtschaftens mit Abschluss und Neuanfang kann sich auf unternehmerische Entscheidungen auswirken. Ferner strukturieren regelmäßige Berichte die zeitlichen Abläufe der Organisation. 

Auch im Hinblick auf den Unternehmenserfolg kann die Wahrnehmung von Zeit die Unternehmenskultur beeinflussen: Werden kurzfristige Erfolge erwartet oder wird eher mittel- und langfristig (nachhaltig) gedacht? Ist Zeit im wahrsten Sinne des Wortes Geld, weil die Dienstleistung in Zeiteinheiten der Mitarbeitenden verkauft wird, oder braucht „gut Ding Weile“? Je nachdem, wie die Antwort ausfällt, kann sich das wiederum auf den alltäglichen Umgang mit Zeit im Unternehmen auswirken: Fangen Meetings pünktlich an, ist ein Zeitrahmen vorgegeben oder dauern Meetings eben solange, wie es dauert, alles zu besprechen? Wie tot bist du, wenn du eine Deadline verpasst? 

Ausreichend Zeit für die Erfüllung der Arbeitsaufgaben zu haben und nicht unter permanentem Zeitdruck zu stehen, ist ein wichtiger Faktor für das körperliche und psychische Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen. Organisationen unterscheiden sich stark durch das Tempo, das in ihnen herrscht. Stehen alle immer unter Zeitdruck, bleibt Zeit für einen kurzen Schwatz an der Kaffeemaschine oder muss die Zeit regelmäßig totgeschlagen werden? Wird gemütlich über die Gänge geschlurft oder fast schon gerannt? Wie lang dürfen Emails sein und die Zeit des Empfängers rauben? Ist eine schnelle Antwort immer die bessere Antwort oder eine schlampige?

Um die eigene Unternehmenskultur besser zu verstehen, macht es Sinn zu untersuchen, was den Takt vorgibt: Der Produktionsrhythmus, Liefertermine, die Saisonalität der Produkte, wichtige Messen, zu denen Neuheiten erscheinen müssen etc.. Konflikte innerhalb von Organisation können auch darauf beruhen, dass unterschiedliche Abteilungen unterschiedliche Zeitvorgaben oder -vorstellungen haben. 

Die flexible Einteilung von Arbeits- und Lebenszeit ist ein wichtiger Faktor für die Arbeitgeberattraktivität im Rahmen der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatem. Im Alltag bestimmt die Geschwindigkeit von Fließbändern, Öffnungszeiten, Arbeitszeitmodelle mit Kernarbeitszeiten und Arbeitszeitkonten, Urlaubssperren und Betriebsferien die Flexibilität der Zeiteinteilung für die Mitarbeitenden. Ein höherer hierarchischer Status kann sich darin zeigen, dass über die eigene Zeit freier verfügt werden kann. Es kann aber auch ein Zeichen von Erfolg im Unternehmen sein, nie Zeit zu haben. 

G. Heterogenität oder Homogenität

Organisationen werden auch durch die Zusammensetzung ihrer Belegschaft geprägt. Dabei nimmt die Diversität und Heterogenität der Mitarbeiterstruktur mit der Größe und Internationalität von Unternehmen in der Regel zu. Auf der Basis von Berufsgruppen, Standorten, informellen Netzwerken, Betriebszugehörigkeiten, Hierarchieebenen, ethnischen Gruppierungen, Geschlechtern oder Generationen können Subkulturen entstehen. Vielfalt führt zu vielen unterschiedlichen Perspektiven und Bedürfnissen. Eine Unternehmenskultur kann Vielfalt fördern und die Perspektivenvielfalt nutzen oder auf Homogenität setzten. Auskunft über die Heterogenität oder Homogenität können z.B. Personalstrukturdaten geben, auch wenn diese die Diversität häufig nur unvollständig abbilden. Auch Konzepte, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Mitarbeiter:innen eingehen, geben Auskunft zu diesem Thema.

H. Verhältnis zu Externen 

Unternehmen unterscheiden sich auch darin, wie sie sich im Verhältnis zu ihrer Umwelt definieren. Dazu gehört, welchen Grad an Verantwortung die Organisation über das eigene Wirtschaften hinaus, ökologisch und sozial, für die Gesellschaft und Erde übernehmen will. Fühlt sie sich nur den Shareholdern gegenüber verpflichtet oder werden die Interessen anderer Stakeholder beim Wirtschaften ebenfalls berücksichtigt? Wie scharf werden die Grenzen zur Umwelt definiert? Ist die Organisation bereit, ihr Wissen zum Wohle aller zu teilen oder muss sie es schützen, um ihren Fortbestand zu sichern? Ist die Rhetorik gegenüber Mitbewerbern und Märkten kriegerisch und aggressiv oder versucht das Unternehmen durch seine eigenen Werte zu überzeugen?

IV. Kultur steckt im Detail

Bei der Einordnung von beobachtetem Verhalten und Antworten in Bewerbungsgesprächen ziehen wir häufig Verhaltensmuster heran, die für die dominierende Kultur (z.B. Altersgruppe, Geschlecht, Ethnie) typisch sind. Was hiervon abweicht, wird abgewertet oder als unpassend eingestuft. Kultur steckt im Detail und beeinflusst unser Denken und Handeln. Wer sich des Cultural Fit in der Personalauswahl bedient, sollte also zumindest wissen, welche Beurteilungsfehler sich durch die eigene kulturelle Prägung ergeben können und wie das Unternehmen kulturell wirklich tickt – auch jenseits der explizit im Unternehmensleitbild definierten und auf der Karriereseite propagierten Werte.

Noch einmal zurück zu den Begrüßungsritualen: Grundsätzlich passte das Händeschütteln sehr gut zu den vielerorts beworbenen flachen Hierarchien, behandelte es doch alle gleich, unabhängig vom sozialen Status, und war viel demokratischer als etwa noch das kontaktlose und hygienischere Knicksen oder unterwürfige Verbeugen. Was gibt es zu Pandemiezeiten für Alternativen? Das Lüften eines imaginären Hutes, ein lässiges Winken, eine leichte Verbeugung mit vor der Brust zusammengeführten Händen, ein Knicks, ein Tap mit Fuß oder Ellenbogen, ein nicht ganz keimfreies Boxen Faust gegen Faust? Vielleicht lässt sich Kreativität doch bald an der Begrüßung ablesen🙂?

Du willst keinen Beitrag von Mission Sustainable mehr verpassen? Dann verlinke dich gerne mit mir auf LinkedIn oder Xing. Mein Newsletter-Anbieter hat mein Konto wegen 3-monatiger Inaktivität leider gelöscht – ich sag nur Zeit und Unternehmenskultur – und vorerst gibt es daher keinen Newsletter mehr.

2 Comments

  1. Liebe Inike,
    vielen Dank für diesen spannenden Einblick, wie man der “echten” Unternehmenskultur abseits der Hochglanzprospekte auf die Spur kommt. Mit sehr viel Herzblut und Fachkompetenz geschrieben. Würde sich auch megagut als Whitepaper eignen.

    Januar 29, 2022
    |Reply

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