Die Entwicklung hin zu einer nachhaltigeren Organisation kann für viele Unternehmen eine tiefgreifende Umgestaltung der bestehenden Organisationskultur bedeuten. Praktiken, Denk- und Entscheidungsmuster müssen verändert werden, wenn die ökologische und soziale Dimension in das Wirtschaften einbezogen werden soll. Ferner erfordert die Überlebensfähigkeit von Unternehmen in der VUCA-Welt, einem beschleunigten, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Umfeld, eine schnelle Anpassungs- und hohe Innovationsfähigkeit. Veränderung wird zur Konstante, und die Unternehmenskultur muss kontinuierlichen Wandel unterstützen. Im Hinblick auf die ökonomische Dimension der Nachhaltigkeit werdet ihr in diesem Blog daher auch immer wieder Beiträge zu Themen wie Lernende Organisation, agile Methoden, Change Management und evolutionäre Kulturentwicklung finden. Wer beim Thema Unternehmenskultur und ihrer Gestaltung noch Neuland beschreitet, kann sich auf dieser Seite einen kurzen Überblick verschaffen.
1. Was versteht man unter Unternehmenskultur?
Der Begriff Unternehmenskultur, wie ich ihn hier verwende, geht auf den Kulturbegriff der Kulturanthropologie zurück und wendet ihn auf Organisationen an. Das Konzept ist sehr umfassend, da er aus der ursprünglichen Abgrenzung von Natur und Kultur stammt. Nach diesem Verständnis entsteht Kultur immer dann, wenn Menschen gemeinsam für eine gewissen Zeit oder wiederholt an etwas arbeiten, gemeinsam erleben oder erlernen. Erfolgreiche Denk- und Verhaltensmuster setzen sich im Laufe der Zeit gegen andere durch und werden durch Wiederholung verstärkt. Wenn in der gleichen Situation Entscheidungen nicht mehr jedes Mal neu getroffen werden, entstehen formale Abläufe, Rollen, Normen, Werte, Rituale und Mythen an der sichtbaren Oberfläche, die teilweise auch schriftlich fixiert und nach außen kommuniziert werden. Unter der erfahrbaren Oberfläche lebt das unbewusste kulturelle Wissen der Gruppe, das wesentlich die Entscheidungen im Unternehmensalltag beeinflusst und an neue Mitglieder implizit oder explizit weitergeben wird.
Es gibt kein Unternehmen ohne Kultur, auch wenn das Thema nicht in allen Organisationen die gleiche oder überhaupt nennenswerte Aufmerksamkeit erhält. Die corporate culture zeigt sich nach diesem breit gefassten Kulturverständnis in der Strategie, der Aufbau- und Ablauforganisation sowie in Führungs- und Managementsystemen und diese wirken umgekehrt auf sie zurück. Die Unternehmenskultur umfasst das Beziehungsmanagement und die interne und externe Kommunikation gegenüber Kollegen, Mitarbeitern, Vorgesetzten, Kunden, Lieferanten und Dienstleistern, aber auch geteilte kollektive Überzeugungen, wie die Ziele der Organisation verwirklicht werden können, was Priorität hat, was das richtige oder falsche Mindset und Handeln innerhalb der Gruppe ausmacht. Unsere eigene Kultur wird uns häufig erst bewusst, wenn ihre Spielregeln verletzt werden. Wir sind dann überrascht oder erleiden in der Begegnung mit Vertretern anderer Kulturen vielleicht sogar einen „Kulturschock“.
Unternehmenskulturen entstehen nicht im geschützten Raum. Wir alle sind geprägt von nationalkulturellen Werten, die wir mit in die Unternehmen tragen. Branchen und Berufsgruppen bilden ebenfalls eigene Kulturen aus, die eine Organisation abhängig vom Zweck dominieren oder sich in Subkulturen niederschlagen können. Informelle Netzwerke, Betriebszugehörigkeiten und Hierarchieebenen innerhalb von Organisationen können ebenfalls eigene Subkulturen ausbilden, genauso wie ethnische Gruppierungen oder Geschlechter. Verschiedenen Generationen (Baby Boomer, X, Y, Z) werden unterschiedliche Werte zugeschrieben, die in den Unternehmen verhandelt werden müssen. Gesellschaftliche Megatrends, neue Technologien, wissenschaftliche Paradigmenwechsel oder auch unvorhergesehene Ereignisse wie die Corona-Pandemie wirken über das Medium „Mensch“ laufend auf die Unternehmenskulturen und erfordern ihre Anpassung. Unternehmenskulturen sind als Kollektive daher sowohl dynamisch als auch multikulturell, insbesondere, wenn der „Cultural Fit“ nicht zu homogen definiert wird, es ein diskriminierungsfreies Recruiting gibt oder auf Diversity sogar besonderen Wert gelegt wird.
2. Kulturmodelle
Kulturmodelle ziehen oft Metaphern wie z.B. Eisberge (Edward T. Hall, Edgar Schein), Seerosenteiche (Edgar Schein) oder Zwiebeln (Geert Hofstede) heran, um zu veranschaulichen, dass nicht alle Teile von Kultur für Beobachter gleichermaßen zugänglich sind, sondern ein großer Teil davon nicht sichtbar unter der Oberfläche schlummert. Unsere eigene Kultur wird uns häufig erst bewusst, wenn etwas unsere Grundannahmen oder Tabus verletzt. Daher ist es wichtig, die verdeckten oder inneren Schichten der eigenen und anderer Kulturen zu kennen, um interkulturelle Konflikte und Missverständnisse zu vermeiden oder Ansatzpunkte für nachhaltig wirksame Veränderungsprozesse zu finden.
Die meisten Modelle zur Beschreibung von Unternehmenskultur gehen auf den Ansatz von Edgar Schein zurück. Der Organisationspsychologe und -entwickler unterscheidet in „Organisationskultur und Leadership“ drei Ebenen von Kultur: Die Ebene der sinnlich wahrnehmbaren Artefakte, die Ebene der bewusst gewählten Überzeugungen und Werte und die Ebene der impliziten, grundlegenden Annahmen.
Zu den Artefakten zählen z.B. die unternehmensinterne Sprache, beobachtbares Verhalten, Meetings, Raumkonzepte, Dresscodes, Organisationsprozesse- und -strukturen, Organigramme, die verwendete Technologie, Mythen, Geschichten, informelle Netzwerke, Dokumente über Werte und Regeln, Rituale, Feiern, Stimmung/Betriebsklima. In den Artefakten können sich die beiden darunter liegenden Phasen manifestieren, sie müssen es aber nicht. Ihr ursprünglicher Gedanke kann vergessen oder von neuen Organisationsmitgliedern umgedeutet worden sein.
Die bewusst gewählten Überzeugungen und Werte (nicht unbedingt verschriftlicht) bilden die Unternehmensphilosophie oder -ideologie und erklären, warum in einer Kultur etwas so gemacht wird, wie es gemacht wird (Verhaltensrichtlinien, Code of Conduct etc.). Sie beschreiben die Wertvorstellungen, Prioritäten und Standards der Zielkultur, wie etwas sein sollte, auch wenn die Werte in der Realität nicht immer gelebt werden. Auch der ausformulierte Sinn oder „Purpose“ einer Purpose Driven Organization kann dazu gezählt werden.
Die unbewussten Grundannahmen, die von der Gruppe kaum noch hinterfragt werden, beeinflussen stark die Wahrnehmung, die Emotionen und das Denken. Dazu gehören zum Beispiel Auffassungen, wie Beziehungen zwischen Menschen über verschiedene Hierarchiestufen oder unter Kollegen aussehen sollen, Annahmen über Geschlechterrollen, Raum und Zeit. Diese Grundannahmen sind das, was für Schein den Kern einer Kultur ausmacht. Sie entscheiden darüber, wer in das Unternehmen passt, wie eine gute Führungskraft handelt, warum es das Unternehmen gibt, wie Abläufe organisiert werden, was Vorrang hat, ob das Umfeld als freundlich oder feindlich wahrgenommen wird, ob Konkurrenz oder Kooperation belohnt werden etc..
Wie verhalten sich diese drei Ebenen zueinander? Die Artefakte können ein gewollter Ausdruck der darunter liegenden Ebenen sein, sie müssen es aber nicht. Sie werden leicht fehlinterpretiert, da der Beobachter nicht weiß, welche Bedeutungen die Gruppe dem Artefakt zuschreibt und er bei der Interpretation durch seine eigene kulturelle Brille blickt. Ganz frei sind Organisation bei der Ausbildung sichtbarer, formaler Strukturen zudem nicht, da gesetzliche Regelungen des jeweiligen Umfelds eingehalten werden müssen.
Ein Beispiel: Ein Großraumbüro (Artefakt) könnte bewusst als Raumkonzept ausgewählt worden sein, um eine offene Kommunikation zu fördern und den gewählten Werten „Offenheit“ und „Kooperation“ zu entsprechen. Es könnte aber auch gestaltet worden sein, damit die Mitarbeiter leichter überwacht werden können (Wert Kontrolle). Wenn der Wert bewusst eingesetzt werden soll, kann er kommuniziert werden. Das passiert in der Praxis natürlich eher mit Werten, die für verschiedene Stakeholder attraktiv sind und das Image des Unternehmens herauspolieren. Die anderen bleiben meist im Verborgenen oder zumindest innerhalb der Mauern der Organisation, soweit das im Social-Media-Zeitalter noch möglich ist. Die nicht mehr verhandelbaren, unbewussten Annahmen finden sich in diesem Beispiel in divergierenden Menschenbildern, wie Douglas McGregor sie beschrieben hat: Im einen Fall folgen sie der Theorie Y (Menschen wollen arbeiten und kontrollieren sich selbst, wenn sie Ziele haben) und im anderen der Theorie X (Mitarbeiter sind von Natur aus faul und müssen kontrolliert werden). Um eine Unternehmenskultur so gut wie möglich zu verstehen und zu verändern, müssen wir also bis zum verborgenen Teil des Eisbergs hinabtauchen.
3. Weshalb sollte ich mich mit Unternehmenskultur beschäftigen?
Der durchschnittliche Lebenszyklus von Unternehmen wird immer kürzer. 2019 wurden deutsche Unternehmen – noch ganz ohne Corona – im Durchschnitt nur ca. 16 Jahre alt (Creditreform). Je erfolgsverwöhnter ein Unternehmen oder eine Branche, desto größer häufig die kulturellen Scheuklappen, die unerwünschte Entwicklungen im Umfeld ausblenden. „Wir sind Marktführer, die andern orientieren sich an uns!“, „Diese Entwicklung auf dem Markt betriff uns nicht!“, „Nachhaltigkeit ist zu teuer“, „Wir haben das schon immer so gemacht und sind damit erfolgreich!“, heißt es so oder ähnlich. Nicht selten folgt dem entspannten Tiefschlaf dann ein unsanftes Erwachen durch einen Alptraum. Prominente Beispiele sind Nokia (Smart-Phone), Kodak (Digitalkamera) und die deutsche Automobilindustrie (E-Mobilität). Unternehmen, die am Markt länger bestehen wollen, müssen aufmerksam sein für Veränderungen in ihrem Umfeld und ihr Geschäftsmodell immer wieder rechtzeitig anpassen.
Die bestehende Unternehmenskultur kann dabei Wind in die Segel der Veränderung pusten, aber auch jeglichen Wind aus den Segeln nehmen. Wird die Strategie an externe oder interne Entwicklungen angepasst, reicht es nicht aus, nur die Struktur zu verändern. Der “weiche” Faktor Kultur muss die Strategie stützen, wie Peters und Waterman im Zusammenhang mit dem von ihnen entwickelten 7-S-Modell zur Beschreibung von Unternehmen betont haben. Nachhaltige Veränderungen sind nur möglich, wenn die Mitarbeiter auch auf emotionaler und mentaler Ebene mitgenommen werden, sie ihr Denken und Verhalten nachhaltig anpassen und neue Standards und Entscheidungsmaßstäbe in den Alltag integrieren.
Ein weiteres Argument dafür, sich mit der eigenen Unternehmenskultur zu beschäftigen, gilt auch für Unternehmen in einem stabilen Umfeld: Wenn die Unternehmenskultur nicht stimmt, wirkt sich das negativ auf Leistungs- und Kostenfaktoren aus, z.B. in der Personalbeschaffung, bei der Mitarbeitermotivation und beim Krankenstand. Ein Unternehmen tut daher gut daran, die Stärken und Schwächen seiner Kultur zu kennen und eine für den Fortbestand und Wachstum des Unternehmens, also die ökonomische Seite der Nachhaltigkeit, förderliche Kultur zu gestalten.
4. Kann man Unternehmenskultur verändern?
Die Frage, ob man Unternehmenskultur verändern kann, polarisiert und hängt zum Teil davon ab, wie Unternehmenskultur definiert wird. Der eine Pol geht davon aus, dass jede Organisation neben anderen Merkmalen eine Kultur hat, die von der Unternehmensspitze „gemanagt“ werden kann. Wer A haben will, bekommt zum Ende des Kulturwandels auch A (Variablenansatz), wobei vor allem bei den sichtbaren Kulturerscheinungen wie Prozessen, Abläufen, Regeln, Leitbildern angesetzt wird. Am anderen Pol gilt Kultur als zu komplex, um sie zielgerichtet zu verändern, da Organisationen Kulturen sind (Metaphernansatz). Andere Autoren verorten sich zwischen beiden Polen und sehen eine Wechselwirkung zwischen formaler Struktur und den unter der Oberfläche liegenden Kulturebenen. Spoiler: Mein Blog gäbe es nicht, wenn ich nicht an die Möglichkeit einer aktiven Veränderung glauben würde. Da Kultur ein dynamisches Phänomen ist, das von Menschen laufend neu verhandelt wird, ist sie auch entwicklungs- und wandlungsfähig – auch wenn mit Wechselwirkungen und ungeplanten Entwicklungen zu rechnen ist.
5. Change Management & Kulturwandel
Dynamische Umweltbedingungen mit neuen Risiken oder Chancen für Unternehmen führen zu kontinuierlichem Anpassungsdruck. Je nach Dringlichkeit, Umfang und Ansatz können die damit verbundenen Strategiewechsel relativ plötzlich alles auf den Kopf stellen, „Köpfe rollen“ lassen oder als evolutionäre Kulturentwicklungen ablaufen. Vielleicht kam die Veränderung einfach über Nacht – plötzlich war die neue Chefin an Bord und es „wehte ein anderer Wind“? Ist die Wettbewerbs- oder Überlebensfähigkeit ernsthaft in Gefahr oder befindet sich das Unternehmen bereits in einer Krise, werden oft externe Berater für ein schnelles und umfangreiches Change Management zu Rate gezogen. Geht es um eine komplexe Veränderung, für die aber etwas mehr Zeit zur Verfügung steht, oder um die Einführung neuer Arbeitsmethoden, Frameworks oder kontinuierlicher Optimierungsverfahren reicht es aus – mit oder ohne externe Begleitung – den metaphorischen (wir wollen ja nachhaltig sein) Elefanten “Stück für Stück” zu essen oder einen partiellen Kulturwandel oder Verbesserungsprozess einzuleiten.
Es gibt unterschiedliche Ansätze und Modelle, an denen sich die Verantwortlichen bei der Durchführung umfangreicher Transformationsprozesse oder schrittweiser und partieller Kulturveränderungen orientieren können. Zu den einflussreichsten zählt das Modell von Kurt Lewin (1963), der Veränderungsprozesse als dreistufige Abfolge von Auftauen, Verändern und Einfrieren beschrieben hat und das Reduzieren von Widerständen als zentrales Element für den Erfolg identifizierte. John P. Kotter entwickelte in Anlehnung an dieses Modell acht notwendige Schritte, die bei Veränderungsprozessen in Unternehmen berücksichtigt werden müssen: Es braucht ein Bewusstsein für die Dringlichkeit bei den Betroffenen, ein starkes Führungsteam, eine motivierende Vision, eine klare und umfangreiche Kommunikation, Handlungsspielräume für die Umsetzenden, das schnelle Erzielen kleiner Erfolge, weitere Verbesserungsmaßnahmen und eine Integration des Wandels in die Unternehmenskultur. Auch bei Edgar Schein kommt den Führungskräften eine Schlüsselrolle im Kulturveränderungsprozess zu. Damit Veränderungsenergie freigesetzt wird, bedarf es aus seiner Erfahrung sowohl einer gewissen Unsicherheit, damit die Komfortzone verlassen wird, als auch eines Gefühls der Sicherheit, um das Neue anzunehmen und die “Lernangst” zu überwinden. Die „Lernenden Organisation“ (Peter M. Senge) misst Lernen und Wissen eine zentrale Bedeutung für die Wettbewerbs- und Überlebensfähigkeit von Organisationen bei und setzt auf einen stetigen, evolutionären Entwicklungsprozess von Organisationen.
Wichtig für eine Kulturentwicklung in eine bestimmte Richtung ist immer eine Kenntnis des Status Quo sowie der Soll-Kultur, die z.B. eine neue Strategie oder neue Arbeitsmethoden unterstützen soll. Jede nachhaltige Erneuerung setzt dann einen Lernprozess bei den Beteiligten als Kulturträger voraus. Insgesamt hat sich für das Gelingen von Veränderungsprozessen eine frühzeitige Einbindung der Betroffenen, eine starke Vision und kontinuierliche Kommunikation als wichtig erwiesen. Mit Widerständen unter den Mitarbeitern ist allerdings immer zu rechnen, da sich Veränderungen auch auf emotionaler Ebene abspielen. Insbesondere bei umfassenden Veränderungen und negativen Nachrichten, muss daher der emotionale Weg der Betroffenen berücksichtigt werden (wichtige Modelle zur Beschreibung sind hier die Change-Kurve, die auf die Schweizer Psychaterin Elisabeth Kübler-Ross zurückgeht oder das “House of Change”), um die Mitarbeiter in den jeweiligen Gefühlslagen kommunikativ abholen zu können.
Ich hoffe, dass diese kurze Einführung in die Themen Unternehmenskultur, Kulturwandel und Change Management euch helfen wird, eure mission sustainable zu starten und sie in eure Unternehmenskultur zu integrieren. In diesem Blog werdet ihr künftig vertiefende Artikel zu diesen Themen und Modellen finden, die ich hier nur kurz anreißen konnte.
Ihr habt Anregungen, Kritik oder einen Best-Practice-Case, den ihren teilen wollt? Schreibt mir an inike at missionsustainable de.