#Flattenthecurve – Teil II. Falls ihr die letzten Monate nicht sowieso durchgängig im Homeoffice gearbeitet habt, geht es für euch jetzt vielleicht auch wieder zurück ins Home sweet Homeoffice. Angesichts der organisatorischen Unbequemlichkeiten, die das deutsche Arbeitsrecht für die Arbeit außerhalb des Büros bereithält, ist es erstaunlich, wie einfach ein kleines Virus uns alle in die eigenen vier Wände abkommandieren konnte. In Windeseile wurden während der ersten Infektionswelle VPN-Zugänge gelegt und die gestreamten Kollegen und Kolleginnen zum Normalfall. Not macht flexibel. Nachdem das „Experiment Homeoffice“ erfolgreich bewiesen hat, dass das Arbeiten fern vom Büro funktioniert, wird auch nach der Pandemie eine Rückkehr zur Fünftagewoche mit Präsenzpflicht vielerorts schwierig werden, und zwar unabhängig davon, ob der von Arbeitsminister Hubertus Heil vorgelegte Gesetzesentwurf mit einem Anspruch auf Homeoffice am Ende in Kraft tritt oder nicht. Für viele Unternehmen heißt es nun, aus dem Improvisationsstadium herauszutreten, praktikable Konzepte für die büroferne Arbeit nach Corona zu entwickeln und mit ihren Mitarbeitern entsprechende Vereinbarungen abzuschließen.
Homeoffice oder Mobilarbeit?
Am Anfang steht die Frage, welches grundsätzliche Label die Arbeit außerhalb des Büros bekommen soll: Homeoffice oder Mobilarbeit. In vielen Fällen wird mobiles Arbeiten vermutlich die bessere, da flexiblere Lösung sowohl für die Unternehmens- als auch Mitarbeiterseite sein. Wird Homeoffice vereinbart, sind die Mitarbeitenden an ihren fest eingerichteten, heimischen Arbeitsplatz gefesselt. Die Kosten für Laptop, Drucker, Bildschirm, Mobiltelefon, Büromöbel etc. oder eine entsprechende Aufwandspauschale übernimmt der Arbeitgeber. Für Arbeitgeber macht diese Lösung in der Regel nur Sinn, wenn dadurch weniger Büroflächen benötigt werden und die Ausgaben für kostenlos zur Verfügung gestelltes Obst, Kaffee, Klopapier etc. in nennenswertem Umfang sinken. Aufseiten der Mitarbeitenden stellt sich die Frage, ob sie einem Umzug ins Homeoffice und der Einrichtung dieses Arbeitsplatzes in ihrer Wohnung wirklich zustimmen möchten. Nicht alle Wohnungen werden den notwendigen Platz für einen solchen, dauerhaften Arbeitsplatz aufweisen und ob die Geschmäcker der Mitarbeitenden und des Arbeitgebers in puncto Inneneinrichtung immer harmonieren, ist zu bezweifeln.
Mobiles Arbeiten ermöglicht den Mitarbeitenden dagegen ein flexibles Arbeiten von verschiedenen Orten. Die Arbeit am heimischen Schreibtisch ist dabei nur eine Option. Sie könnten auch auf Reisen, im Park, im Café oder aus der Gartenlaube arbeiten, solange sie über die mobilen Endgeräte erreichbar sind. Auch ein Arbeiten aus dem Ausland wäre theoretisch möglich, auch wenn das weitere arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Implikationen mit sich bringt.
Für beide Varianten gilt, dass Arbeitszeitregelungen sowie Vorschriften des Daten- und Arbeitsschutzes, die für Büroarbeitsplätze gelten, auch beim Arbeiten außerhalb des Büros eingehalten werden müssen. Allerdings sind die Anforderungen an das fest installierte Homeoffice etwas höher. Eine ausführliche Gegenüberstellung zu den Unterschieden sowie Vor- und Nachteilen beider Modelle findet ihr hier.
Neben der Wahl des passenden Grundmodells müssen die Unternehmen weitere Fragen für sich klären: Wie viel Mobilarbeit macht für welchen Aufgabenbereich überhaupt Sinn? Was passiert mit unserer Unternehmenskultur, wenn sich die Zusammenarbeit in die fernmündliche (lustiges Wort, werde ich jetzt öfter verwenden) und digitale Welt verlagert? Wie gelingen Onboarding und Personalentwicklung bei einem hohen Anteil an Mobilarbeit? Wie soll die Arbeitszeit erfasst werden? Wie fair ist die Einführung von Mobilarbeit gegenüber Arbeitnehmergruppen im Unternehmen, deren Arbeitsplätze die Voraussetzungen für mobiles Arbeiten und Gleitzeit nicht erfüllen?
Die Antworten lassen sich finden, wenn wir das Homeoffice als das betrachten, was es ist: Ein neuer Arbeitsraum, der unsere Zusammenarbeit verändert. Da Kultur immer dann entsteht, wenn Menschen gemeinsam für eine gewissen Zeit oder wiederholt an etwas arbeiten, gemeinsam erleben oder erlernen, wirkt die Dezentralisierung und Verlagerung in den virtuellen Raum auch direkt auf die Unternehmenskultur sowie unser kulturelles System darüberhinaus. Wir sollten daher Vor- und Nachteile der dezentralen Arbeit beleuchten und überlegen, was auf dem Weg ins Homeoffice gerne verloren werden darf und was wir in die neue Arbeitswelt mitnehmen wollen.
Vor- und Nachteile der bürofernen Arbeit
Eine interessante Studie zu den Vor- und Nachteilen von Heimarbeit hat bereits 2015 die Stanford University unter Leitung von Professor Nicholas Bloom durchgeführt. Untersucht wurden 500 Call-Center-Mitarbeiter der chinesischen Reiseagentur Ctrip. Die eine Hälfte arbeitete neun Monate von zu Hause aus, die andere im Büro. Die Heimarbeit führte zu einer Leistungssteigerung von 13 %, da im Homeoffice weniger Pausen und Krankheitstage anfielen (9 %) und konzentrierter gearbeitet wurde (4 %). Die Mitarbeiter aus der Homeoffice-Gruppe waren zudem zufriedener und ihre Fluktuationsrate sank um 50 %. Die Einführung von Mobilarbeit kann für Unternehmen also deutliche positive Effekte auf der Kostenseite mit sich bringen. Allerdings stellte sich im Rahmen der Studie auch heraus, dass die Kollegen aus dem Homeoffice seltener befördert wurden und weniger Anerkennung von ihren Vorgesetzten erhielten. Viele vermissten zudem den Austausch mit den Kollegen. Arbeit erfüllt eben auch eine wichtige soziale Funktion.
Ein neuer Arbeitsraum
Die Verlagerung der Arbeit in die eigenen vier Wände und den digitalen Raum verändert unsere Arbeitsumgebung und soziales Miteinander. Werfen wir einen Blick auf die unterschiedlichen Aspekte des neuen Arbeitsraums und wie er unsere Kommunikation, Zusammenarbeit und Privatleben verändert.
Digitaler Raum
Einen meiner ersten Ferienjobs verbrachte ich Anfang der 90er in einem großen Konzern als Vorzimmerdame. Ich weiß nicht mehr genau, in welcher Abteilung es war, vielleicht wusste ich es auch nie, aber ich glaube, es war im internationalen Vertrieb. Zumindest zählte es zu meinen Hauptaufgaben, dicke Papierstapel in ferne Länder zu faxen. Einige Zeit des Tages verbrachte ich auch damit, Unterlagen zu kopieren, einzutüten und mit der Hauspost zu verschicken. Wer das nicht mehr kennt, hat nichts verpasst. Ein Hoch auf die Erfindung der Email!
Diese kleine Anekdote zeigt, wie neue Technologien und Tools unsere Arbeitswelt verändern. Aufgabenbereiche fallen einfach weg oder werden durch neue Formen der Kommunikation ersetzt. Ein Wechsel ins Homeoffice im Zuge einer Pandemie – oder nennen wir es passend zu den 90ern Heim- oder Telearbeit – das wäre damals zwar nicht gänzlich unmöglich, aber doch deutlich schwieriger zu organisieren gewesen. Digitalisierte Unternehmensprozesse machen ortsunabhängiges Arbeiten erst möglich.
Auch vor dem Auftritt von Corona haben digitale Tools und Technologien unsere Arbeitskultur mal schleichend, mal disruptiv verändert. Wir nutzen schon länger Emails, kollaborative Tools, Social Media, virtuelle Meetingräume, Messenger-Dienste und Chats für die Kommunikation. Doch durch die flächendeckende Home-Office-Tätigkeit und Hygieneanforderungen sind informelle Treffen an der Kaffeemaschine, in Aufenthaltsräumen und Kantinen rar geworden oder gänzlich weggefallen. Auf den Fluren wird kaum noch gefunkt. Digitale Mittags- und Kaffeepause können hier nur bedingten Ersatz schaffen. Der Arbeitsalltag wird geruchloser, weniger haptisch, zweidimensionaler und gemuteter. Vielleicht wird unsere Arbeitswelt durch die Verlegung in das digitale Paralleluniversum einfach sachlicher? Bei einem Witz lachen: Kann man machen, hört aber keiner. Der Vorteil: Schreit dich dein Kollege an, kannst du einfach die Lautstärke auf eine angemessene Tonlage runterfahren.
Die Anforderungen an die Kommunikation und Führung verändern sich durch die Dezentralität. Die Stummschaltung und vielleicht sogar Kamera-Deaktivierung der Teilnehmer in größeren Video-Konferenzen führt schnell zu einer einseitigen Kommunikation und Berieselung der Mitarbeitenden durch den Vorgesetzten. Es sollte daher überlegt werden, wie die Beteiligung und Interaktion aller Teammitglieder im virtuellen Raum gefördert werden kann.
Flexibler Raum
Historisch betrachtet, ist das Arbeiten von zu Hause eigentlich gar nicht neu. Es stellt eher eine Rückgewinnung der Autonomie des Menschen bei der Bestimmung von Arbeitszeit und -ort dar, die er im Zuge der Industrialisierung am Fabriktor abgegeben hat. In diesem Sinne ist das Homeoffice Ausdruck einer neuen Dezentralisierung, bei der Arbeitsstätte und Wohnraum wieder zusammenfallen. Mobiles Arbeiten geht noch einen Schritt weiter, da der Arbeitsort noch flexibler und individueller gestaltet werden kann.
Für die Arbeitgeber erhöht sich dadurch der räumliche Radius für das Recruiting. Längere Arbeitswege werden für Mitarbeitende vorstellbar, wenn sie nicht jeden Tag vor Ort sein müssen. Ein geringeres Pendleraufkommen führt zudem zu einem geringeren CO2-Ausstoß und damit positiven Effekten für den Klimaschutz. Allerdings darf die Wirkung auf den Klimaschutz nicht überschätzt werden, solange der für die Digitalisierung benötigte Strom nicht aus nachhaltigen Energiequellen stammt.
Im New-Work-Kontext oft als Errungenschaft einer gelungenen Unternehmenskultur gepriesen, bringt das Open-Space-Büro auch Nachteile mit sich, wenn nicht gleichzeitig genug Rückzugsmöglichkeiten für konzentriertes Arbeiten, Telefonate und kleine Arbeitsgruppen geschaffen werden. Hier kann das Homeoffice eine einfache Erweiterung der räumlichen Möglichkeiten bieten. Im Idealfall können die Mitarbeitenden je nach anfallender Arbeitsaufgabe die beste Lösung für sich wählen. Steht ein Kreativprozess an, bei dem Material haptisch geprüft oder ein Prototyp entwickelt werden muss? Dann heißt es: ab in den dafür ausgestatteten Meetingraum. Fällt eine Aufgabe an, für die Ruhe und Konzentration erforderlich sind, bietet es sich vielleicht an, vom Homeoffice aus zu arbeiten. Diese hohe Flexibilität setzt allerdings ein ausreichendes Maß an Selbstorganisation und Eigenverantwortung bei den Mitarbeitenden und von Seiten des Unternehmens Vertrauen voraus.
Unsichtbarer Raum
Zurück zu meinem Ferienjob in den frühen 90ern: Das Vorzimmer teilte ich mir mit einem Kollegen, seines Zeichens Student der Literaturwissenschaften. Er war für einen anderen Chef zuständig und ein unterhaltsamer Gesprächspartner. Jeden Tag trank er eine große Flasche Spezi. Die leeren Flaschen reihte er feinsäuberlich hinter sich an der Wand auf, so wie Gefangene Striche in die Wände ihrer Gefängniszellen ritzen. Wenn sein Chef ihn zur Weißglut brachte, was ab und zu vorkam, verschwand er einfach für ein bis zwei Stunden und erklomm den nahegelegenen, begrünten Müllberg. Das fiel nicht weiter auf. Die Flure des mehrstöckigen Bürogebäudes waren lang und anonym. Um neues Büromaterial zu holen, musste man das Gebäude wechseln, Faxgeräte und Kopierer waren nicht direkt im Büro und wirklich ausgelastet waren wir nicht.
War ich womöglich die Einzige, die arbeitete oder zumindest immer präsent war? Für mich war das relativ klar: Die Tür zum Büro meines Chefs war meist geschlossen. Was er dahinter machte, wusste ich nicht. Oft war er gar nicht da und wo er war, sagte er mir nicht immer. Wenn ich beim Abschied in den Feierabend doch mal einen Blick in sein Büro erhaschen konnte, las er oft Zeitung. Irgendwann vertraute er mir an, er würde jetzt auch gerne Feierabend machen, aber als Abteilungsleiter werde von ihm erwartet, dass er länger bliebe.
Auch 30 Jahre später wird Anwesenheit noch oft mit Leistung gleichgesetzt. Der Kern des Problems: Die Arbeit der anderen ist für uns oft unsichtbar und schwer einzuschätzen. Das gilt insbesondere für die Arbeit an Bildschirmen im Vergleich zu körperlichen oder handwerklichen Tätigkeiten. Mit Kinderaugen betrachtet, haben wir alle den gleichen, langweiligen Job: Wir sitzen am Computer und telefonieren. Heute fällt es viel weniger auf, wenn Leerlauf herrscht, da die plakative Zeitung unauffälligeren, digitalen Medien gewichen ist. Um hier als Arbeitgeber nicht nervös zu werden, braucht es Vertrauen in die Mitarbeiter und ja – auch in die eigene Personalplanung.
Ortsunabhängig gilt: Wer nicht arbeiten will, der tut es nicht. Auch nicht im Büro. Die Gründe für die unerwünschte Passivität können dabei ganz unterschiedlich sein: Demotivation bis zur inneren Kündigung, fehlende Auslastung, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Ablenkung von außen. All das kann sich sowohl im Büro als auch im Homeoffice zeigen, denn Präsenz garantiert noch lange keinen engagierten Arbeitseinsatz. Erfolgsversprechender, als auf eine Anwesenheit vor Ort zu pochen, ist das Schaffen einer positiven Unternehmenskultur und motivierender Arbeitsbedingungen.
Stimmen Personalplanung, Aufgabenverteilung und Unternehmenskultur, ist nicht davon auszugehen, dass Mitarbeiter sich zu Hause auf die faule Haut legen (können) oder sich ihrer wahren Leidenschaft, dem Putzen und Wäschewaschen widmen. Da neben der Arbeit nun auch noch der Arbeitende unsichtbar wird, muss jedoch überlegt werden, wie anfallende Arbeitsaufgaben und Ergebnisse im virtuellen oder hybriden Raum transparent gemacht werden können. Das ist wichtig für eine faire Beurteilung der Mitarbeitenden im Homeoffice durch den Vorgesetzten, die für die Arbeitsmotivation und -zufriedenheit wichtige Wertschätzung und Anerkennung der Arbeitsleistung sowie daraus resultierende Beförderungen und Gehaltserhöhungen.
Sozialer Raum
Die Bindung an ein Unternehmen kann emotional, normativ oder rein rechnerisch fundiert sein, wie Natelie Allen und John Meyer (1990) in ihren wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema herausgefunden haben. Bei einer hohen emotionalen Bindung identifizieren sich die Mitarbeiter persönlich stark mit dem Unternehmen. Sie sind stolz darauf, für die Organisation tätig zu sein, in der Regel zufriedener, engagierter und weniger wechselbereit. Mitarbeitende mit einer normativen Bindung bleiben vor allem aus Pflichtgefühl und Dankbarkeit bei ihrem Arbeitgeber, wobei es bei dieser Komponente eine gewisse innere Verwandtschaft zur emotionalen Bindung gibt. Die auf reinem Kalkül basierende Bindung dagegen hält nur, bis sich eine interessantere Option auftut, für die es sich lohnt, die Wechselrisiken und Kosten für den Verlust der Komfortzone in Kauf zu nehmen.
Unternehmen, die sich engagierte, zufriedene und wenig wechselwillige Mitarbeiter wünschen, müssen deshalb dafür sorgen, dass die fachliche und soziale Integration neuer Mitarbeiter gewährleistet wird, auch wenn sich der Arbeitsplatz ins Homeoffice verlagert. Findet die Arbeit auf Dauer in einem zu geringen zeitlichen Umfang im Büro statt, wird es schwieriger, persönliche Kontakte und damit auch eine emotionale Bindung zum Unternehmen aufzubauen. Wenn der persönliche Kontakt fehlt, kommt es auch schneller zu Missverständnissen und Konflikten. In der rein virtuellen Zusammenarbeit ist es weniger leicht, Vertrauen und Gemeinschaft aufzubauen, was sich sowohl auf die Mitarbeiterbindung als auch auf das psychische Wohlbefinden auswirken und Stress verursachen kann. Die soziale Komponente der Arbeit wird insgesamt schwächer.
Gerade Berufseinsteiger lernen noch stark von der Beobachtung erfahrener Kollegen. Wenn alle Mitarbeiter dezentral arbeiten, muss die Wissensvermittlung noch besser organisiert werden oder sie findet nicht statt. Als “Mäuschen” die Kundengespräche oder Bewerberinterviews der Kollegin mithören oder einen Termin spontan als Zuschauer begleiten, funktioniert dann nicht mehr. Das gleiche gilt für die wichtige Onboarding-Phase aller neuen Mitarbeiter. Ein VPN-Zugang und Laptop alleine reichen nicht aus, um eine gelungene Einarbeitung und die soziale Integration zu gewährleisten. Eine ausreichende (zumindest digitale) Anwesenheit und Verantwortungsübernahme erfahrener Kollegen und Vorgesetzter muss eingeplant werden, damit die Neuen nicht “aus den Augen, aus dem Sinn” geraten. Auch Zeit für informelle Gespräche und Möglichkeiten zum Kennenlernen sollten eingeplant werden.
Es gilt also, neue Onboarding- und Retention-Konzepte zu entwickeln, die eine affektive Bindung an das Unternehmen fördern, wenn es den täglichen Treffpunkt im Büro nicht mehr gibt. Um den Wegfall spontaner und informelle Begegnung im Büro zu kompensieren, braucht es mehr organisierte Team-Events (digital und live), um den Zusammenhalt und den Unternehmensspirit lebendig zu halten.
Privater und öffentlicher Raum
Den Beschäftigten ermöglicht die höhere räumliche Flexibilität, ihre Arbeitszeit optimaler an ihre jeweilige Lebenssituation und außerberuflichen Verpflichtungen anzupassen. Lange Arbeitswege entfallen, das morgendliche Styling kann verschlankt werden – all das spart Zeit, die in Sport, Familienleben, Fortbildung oder manchmal auch mehr Arbeit investiert werden kann. Der Stress des täglichen, normalen Wahnsinns wird reduziert. Die Menschen gewinnen einen höheren Grad an Autonomie bei der Organisation ihres (Arbeits-)alltags und die individuelle Lebensplanung wird unabhängiger vom Arbeitsort. Warum nicht den hohen Mieten in der Stadt entfliehen und aufs Land ziehen? Selbstbestimmung wiederum ist eine wichtige Zutat für psychologisches Empowerment und damit für eine nachhaltige Mitarbeitermotivation und Arbeitszufriedenheit – wovon auch die Unternehmen profitieren.
Wer über Remote Work nachdenkt, muss auch über das Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Privatem sprechen. Im Zuge der Globalisierung und digitalen Möglichkeiten ist es längst normal geworden, auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten für Telefonate und Calls zur Verfügung zu stehen und am Wochenende und manchmal sogar im Urlaub die geschäftlichen Emails zu checken. Auf der anderen Seite wird vielleicht tatsächlich mal eine Waschmaschine während der Arbeitszeit oder in der Mittagspause gefüllt und die Ladung später in den Trockner verfrachtet. Damit es nicht zu Missverständnissen oder einem gefühlten Zwang zur Dauerverfügbarkeit kommt, müssen klare Regeln zur Erreichbarkeit festgelegt werden. Eventuell müssen auch die Datenschutzrichtlinien zum Thema Mobilarbeit noch ergänzt und die Mitarbeitenden nachgeschult werden.
Virtuelle Blicke in die Küchen oder Wohnzimmer unserer Kollegen und Kolleginnen, das ins Arbeitszimmer hereinplatzende Kind oder die am Bildschirm vorbei schlendernde Katze verschaffen Einblicke in das Privatleben der Mitarbeitenden. Was unternehmensintern charmant sein kann, die Wahrnehmung des ganzen Menschen fördert und vielleicht persönlichere Beziehungen entstehen lässt, kann im Kundencall oder Bewerberinterview auch schnell unprofessionell wirken. Ein Blick ins Arbeitszimmer des Recruiters sagt zudem wenig über die Arbeitsbedingungen im Büro aus. Aussagekräftiger wäre eine Video-Tour durchs Büro, wenn ein Rundgang vor Ort nicht möglich ist. Nicht jeder Mitarbeiter möchte zudem seine Privatsphäre für alle zugänglich machen, und sei es auch nur ausschnittsweise. Unternehmen sollten sich Gedanken machen, was zu ihrer Employer Brand und Unternehmensmarke passt und wie diese Inhalte in Video-Konferenzen transportiert werden können. Der Markt bietet hierfür bereits geeignete Tools, über die individuelle Hintergründe eingeblendet werden können.
Es darf auch nicht vergessen werden, dass nicht für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Arbeiten von zu Hause das bessere Arbeiten ist. Manche brauchen die Büroräume, um sich auf ihre Aufgaben konzentrieren und nach der Arbeit zu Hause abschalten zu können. Mobiles Arbeiten mit Kita-Kind in den heimischen Räumlichkeiten oder in Kombination mit Homeschooling ist auch nur der halbe Spaß. Wenn die Kinder klein sind, kann das Büro geradezu Wellness-Charakter haben: Kaffeetrinken ohne gleichzeitig das Baby zu schaukeln? Keiner heult, will auf den Arm oder einem beim Telefonieren den Hörer aus der Hand reißen. Was will man mehr? Trotzdem stellt das häusliche Büro für Eltern oft die einzige Möglichkeit dar, Kinderbetreuung und Arbeiten unter einen Hut zu bringen, sei es, weil die Kinder krank sind oder weil böse Viren uns alle in den Lockdown zwingen.
Endlich: Home sweet Homeoffice
Eine One-fits-all-Lösung wird es in puncto Homeoffice nicht geben. Damit das Arbeiten zu Hause nicht nur seine vielfältigen Vorteile entfalten kann, sondern auch die Nachteile reduziert werden, müssen die Unternehmen auf ihre individuelle Situation zugeschnittene Lösungen entwickeln.
Unternehmen, die das Improvisieren beim Thema büroferner Arbeit hinter sich lassen wollen, müssen unternehmens- und aufgabenspezifische Regelungen erarbeiten und mit den Mitarbeitern vereinbaren. Oft bietet sich aufgrund der höheren Flexibilität vermutlich ein Modell mobiler Arbeit mit einem Mix aus (festen oder flexiblen) Präsenztagen und Remote Work an. Wird der virtuelle Raum zur zentralen Begegnungsstätte, sollte er für verschiedene Bedürfnisse und Formen der Zusammenarbeit gestaltet und nicht dem Zufall überlassen werden. Um die Nachteile der mobilen Arbeit auszugleichen, sollten die Konzepte mit einer Vertrauenskultur, vernünftigen Personalplanung sowie geeigneten Onboarding-, Retention- und Personalentwicklungskonzepten gekoppelt werden. Die geleistete Arbeit muss sichtbar gemacht und anerkannt werden. Klare Regeln zur Erreichbarkeit, Zusammenarbeit und für den Außenauftritt können den gemeinsamen Rahmen für die dezentralisierte Zusammenarbeit definieren.
Zum Schluss seid ihr gefragt: Denke ich im Hinblick auf Mobilarbeit noch zu altmodisch? Ist jegliche Pflicht zur Anwesenheit im Büro bereits ein Auslaufmodell, überbewertet von Alterskohorten, die Freundschaften und soziale Kontakte noch mit persönlicher Begegnung verbinden? Man mag das gut finden oder nicht: Für die Generation Z und folgende wird es bereits normal, Freundschaften im Netz aufzubauen. Vielleicht trifft man sich später auch mal live und in Farbe, vielleicht aber auch nie. Wie schätzt ihr die Entwicklung ein? Ich freue mich auf eure Kommentare und bin gespannt, was ihr beim Umzug ins Homeoffice aus der alten Welt in euren Koffer packen wollt und was ihr lieber im Büro lasst.
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