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Who kills diversity?

Posted in Nachhaltiges HR Management, Organisationsentwicklung, Recruiting, and Unternehmenskultur

In Science-Fiction-Filmen finden sich oft radikale Lösungen, wie das Thema Überbevölkerung geregelt wird: Wer erinnert sich zum Beispiel noch an den Film „Flucht ins 23. Jahrhundert“ von Michael Anderson (1976)? Die Menschheit lebt in Wohlstand auf einem abgeschlossenen Areal unter der Erde. Da Fläche und Ressourcen begrenzt sind, würde ein unkontrolliertes Bevölkerungswachstum zum Problem werden. Die Gemeinschaft hat daher eine wirkungsvolle, wenn auch schmerzhafte Lösung gefunden: Am 30. Geburtstag heißt es Abschied nehmen. Anstelle knallender Sektkorken und dem vielleicht etwas mulmigen Gefühl, dass Ü-30-Parties nun nichts mehr im Wege steht, signalisiert dem Geburtstagskind ein Kristall in der Handfläche, dass es sich auf den Weg zur Erneuerung (in Wirklichkeit Vernichtung) begeben soll, um das Überleben der nachfolgenden Generationen zu sichern.

Für uns als außenstehendes Filmpublikum ist leicht zu verstehen, weshalb es keine älteren Menschen in der beschriebenen Gesellschaft gibt. Der Diversity-Killer steckt in den bewussten und unbewussten Annahmen der futuristischen Kultur: Ältere Menschen müssen Platz für junge Menschen machen, um den Fortbestand der Spezies zu sichern. Solange diese Glaubenssätze nicht in Frage gestellt werden, reproduziert sich das System permanent. 

In der realen Welt gibt es heute zum Glück andere Lösungsansätze, um der Überbevölkerung und Ressourcenverknappung zu entgegnen. Ich will mit diesem kurzen Ausflug in die Sci-fi-Welt auch auf etwas anderes hinaus: Wie wirken sich kulturelle Annahmen auf die Homogenität und Heterogenität der Belegschaft von Unternehmen aus? Wieso stoßen Frauen heute noch immer an die “gläserne Decke”? Warum bezahlen Unternehmen lieber die jährliche Ausgleichsabgabe für Schwerbehinderte, als sich mit der Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, lassen Stellen lieber unbesetzt, als Personen über 50 (oder 40) einzustellen? Wieso ist Diversity oftmals nicht viel mehr als eine leere Worthülse, obwohl sich alle dazu bekennen? Anders gefragt: Who kills diversity?

Werte und Normen der Makro-Kultur

Diversity, Gleichstellung, Gleichbehandlung und Chancengleichheit sind in unserem Kulturkreis sozial erwünscht: Sie werden als Werte, Maßstäbe und Ideale in gesetzlichen Regelungen, politischen Agenden und auch vielen Unternehmensrichtlinien verankert. Diskriminierende Verhaltensweisen gelten als unmoralisch und ein Diskriminierungs-Fauxpas kann schnell zu Shitstorms und Boykottaufrufen für Produkte und Unternehmen führen. 

Um es mit dem Kulturmodell von Edgar Schein zu beschreiben: Auf dem Level der Artefakte (z.B. Gesetzestexte) und bewusst gewählten Werte sind die gesamtgesellschaftlichen Weichen für Diversity gestellt. Die ethisch-moralische Grundlage ist eigentlich geklärt, die Soll-Kultur steht – zumindest auf der rationalen Ebene. Auf der Suche nach den Diversity-Killern müssen wir daher einen Blick auf die tieferliegende Kulturebene der grundlegenden, oft unbewussten Annahmen werfen, die unser Denken, unsere Interpretationen der Wirklichkeit und Emotionen steuern. Innerhalb einer Kultur verstärken sich solche Annahmen gegenseitig, weil sie von mehreren Menschen geteilt werden.

Diversity-Killer #1: Gesellschaftliche Stereotype

Unsere Basiswerte erwerben wir bereits in den ersten 10 bis 12 Jahren unseres Lebens, so z.B. auch unser Bild typischer Geschlechterrollen. Es prägt uns, ob wir dafür gelobt werden, „hübsch“ auszusehen, „bescheiden und nett“ zu sein oder „klug und durchsetzungsstark“. Welche Aufgabe übernimmt zu Hause die Mutter, welche der Vater? Gibt es vielleicht zwei Mütter und keinen Vater? Gehen beide arbeiten und in welchem Umfang teilen sich die Eltern die Erziehungs- und Hausarbeit? Die Theorie der sozialen Geschlechterrollen der Sozialpsychologin Alice Eagly besagt, dass wir während unserer Sozialisation erlernen, welche Aufgaben und Berufe Frauen typischerweise übernehmen und welche Männer. Aus den übernommenen sozialen Rollen wird wiederum abgeleitet, welche Kompetenzen die jeweiligen Personen mitbringen. Da Frauen oft soziale Berufe ausüben, gelten sie als empathischer, hilfsbereiter und kommunikativer. Männern wird dagegen Verhandlungsgeschick, Durchsetzungsvermögen und Handlungskompetenz zugeschrieben. Es entstehen Geschlechterstereotype, die unsere Erwartungen an das Verhalten von Frauen und Männern in einer Gesellschaft prägen. Stereotype machen die komplexe Welt für uns einfacher, indem sie Informationen weglassen. Sie beeinflussen unsere Beobachtungen, Erinnerungen, Beurteilungen und Verhalten und können zu unbewussten oder bewussten Vorurteilen (Bias) führen. Schublade auf, Mensch rein, Schublade zu.

Wenn Menschen sich eine Führungskraft vorstellen, assoziieren sie damit z.B. häufiger einen Mann. Dieses Phänomen benannte Virgina E. Schein in den 70er Jahren als „Think-Manager-Think-Male“-Stereotyp. Es führt dazu, dass Frauen es schwerer haben, in Führungspositionen aufzusteigen. Steigen Frauen entgegen dieser Hindernisse in der Hierarchie auf, werden ihnen die “weiblichen” Persönlichkeitsmerkmale oft aberkannt, da sie durch „männliches“ Verhalten gegen weibliche Stereotype verstoßen (Backlash-Effekt). Veränderungen ergeben sich erst, wenn es genug Vorbilder für nachkommende Generationen gibt, die von den alten Rollenbildern abweichen.

Unterschiedliche ethnische Gruppierungen können eigene Vorstellungen davon entwickeln, welche Berufe oder Branchen angemessen oder erstrebenswert für Frauen und/oder Männer sind. Der Bewerberpool, aus dem Unternehmen ihre Mitarbeiter rekrutieren können, ist für viele Berufsgruppen daher oft schon im Vorfeld im Hinblick auf Vielfalt oder ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis eingeschränkt.

Diversity Killer #2: Schlechte Personalwerbung

Auch durch die Personalwerbung kann die Vielfalt des Bewerberpools weiter eingeschränkt werden, selbst wenn die Grundregeln des AGG wie geschlechtsneutrale Stellenbezeichnungen eingehalten werden. Wichtig für die Ansprache unterschiedlicher Personengruppen ist neben einer inkludierenden Sprache auch die Ausformulierung der Anforderungen. Frauen bewerben sich z.B. oft nur dann, wenn sie alle in der Stellenanzeige aufgeführten Voraussetzungen erfüllen. Männer sind in diesem Punkt schmerzbefreiter. Daher sollte bei der Erstellung des Anforderungsprofils darauf geachtet werden, welche Anforderungen wirklich zu 100 % erfüllt werden müssen und welche lediglich „nice-to-have“ oder erlernbar sind. 

Menschen vermeiden zudem Rolleninkongruenz. Wenn die berufliche Rolle in der Stellenbeschreibung nicht mit ihrer Geschlechterrolle in Einklang gebracht werden kann, bewerben sie sich seltener. Verschiedene Studien haben gezeigt, das männlich konnotierte Eigenschaften wie hartnäckig, durchsetzungsfähig und ehrgeizig sowie Eigenschaften, die stark mit Status und Macht in Verbindung gebracht werden, Frauen von einer Bewerbung abhalten können, da sie nicht mit den Vorstellungen von ihrer sozialen Rolle übereinstimmen. Um Frauen zur Bewerbung zu bewegen, ist es daher von Vorteil, diese Eigenschaften mit weiblichen oder neutralen Begriffen zu umschreiben oder Persönlichkeitsmerkmale durch Verhaltensbeschreibungen zu ersetzen. “Durchsetzungsfähig” wird dann z.B. zu “selbstbewusst” oder “der Fähigkeit, Ziele erfolgreich zu erreichen”). Im Hinblick auf den Text einer Stellenanzeige kann auch die Verwendung „einfacher Sprache“ zu mehr Bewerbungen führen, z.B. um Menschen anzusprechen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Eine umfassende Broschüre mit vielen Tipps zur gezielten Ansprache von Frauen in Stellenanzeigen, stellt z.B. das Kofa hier zur Verfügung. 

Besonders einfach ist es, unterschiedliche Personengruppen durch Bilder von einer Bewerbung abzuhalten. Zeigt die Stellenanzeige eine vielfältige Belegschaft oder nur weiße Männer in dunkelblauen Anzügen? Könnte der abgebildete Altersdurchschnitt einer Szene aus „Flucht ins 23. Jahrhundert“ entstammen? Haben alle Menschen auf dem Foto eine Tätowierung und ein Piercing? Werden auch People of Color gezeigt? Verweist das Bild auf eine geschlechterspezifische Rangordnung? Welche Aufgaben führen Frauen, welche Männer auf den Fotos aus? Mit mehr Bewerbungen ist zu rechnen, wenn auf der Karriereseite oder bei Stellenposts Bilder eingesetzt werden, die Menschen unterschiedlicher Kategorien (Frauen, Männer, Rasse/Ethnie, Menschen mit und ohne Behinderung, jung, alt etc.) abbilden. Im Idealfall zeigen die Fotos natürlich echte Menschen aus dem Unternehmen – aber da fängt das Dilemma an: Wo keine Vielfalt ist, kann auch keine abgebildet werden. 

Diversity-Killer #3: Wirtschaftliche Argumente

„Abschluss (+), Berufserfahrung/Krankenhaus (+), eher nein, hat schon ein Kind (-)“. Ein Sticker mit diesen Bullet-Points klebte einmal auf den zurückgesandten Bewerbungsunterlagen meines Bruders. Okay, ertappt, das ist natürlich nicht meinem Bruder passiert, ich habe gar keinen, aber die Geschichte ist nicht erfunden, wenn auch schon etwas länger her. Ich mag mich täuschen, aber es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, dass die Bewerbung eines Mannes abgelehnt wird, weil er „schon ein Kind hat“. Bei Männern ist ein Kind schnell ein überzeugender Grund für eine Gehaltserhöhung. Der letzte Punkt auf dem Sticker verrät eine Reihe von Annahmen des Bewertenden, die auch heute noch existieren: Wo ein Kind ist, ist das zweite nicht fern, und dann fällt die Frau länger aus (Beschäftigungsverbot, Mutterschutz, Elternzeit), das bereits vorhandene (kleine) Kind wird oft krank sein und natürlich wird die Mutter zu Hause bleiben, um es zu pflegen und nicht der Vater. Überstunden kann oder will sie wahrscheinlich auch nicht machen und besonders flexibel wird sie auch nicht sein. Die Frau mit Kind einzustellen (womöglich in eine Führungsposition), wird daher als unökonomisch und Herausforderung für die interne Arbeitsorganisation eingestuft. Ähnliche Vorbehalte im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit/Leistungsfähigkeit gibt es auch gegenüber Menschen mit Behinderungen oder ältere Erwerbstätige.

Natürlich können die Annahmen über die Frau mit Kind stimmen, sicher fällt den Auswählenden in diesem Moment auch ein ganz ähnlicher Fall ein, den sie gerade erst hatten. Das reicht dann für eine Entscheidung gegen die Fortsetzung des Auswahlprozesses aus, nach Gegenbeispielen wird nicht gesucht und es wird auch nicht mehr erfragt, wie die Frau im konkreten Fall die Kinderbetreuung organisieren würde. Eine Frage im Übrigen, die meinem fiktiven Bruder als “Ernährer der Familie” vermutlich nie gestellt würde.

Diversity Killer #4: Boss-Auswahl

Letztlich hängt es von den Auswahlkriterien der Führungskräfte aus dem Fachbereich ab, ob diskriminierungsfreie Einstellungsprozesse möglich sind: Da Rekrutierende (auch wenn sie das AGG auswendig können und – was unrealistisch ist – selbst völlig vorurteilsfrei auswählen könnten) nicht permanent mit dem Kopf gegen die Wand laufen möchten, meist wenig Zeit haben und nicht scharf auf das Image sind, „immer so Bewerber zu schicken, die gar nicht passen“, übernehmen sie schnell die jeweiligen ausgesprochenen oder unausgesprochenen Auswahlkriterien der Hiring Manager.

Durch meine langjährige Tätigkeit bei einer Personalberatung hatte ich die Gelegenheit, die Auswahlkriterien ganz unterschiedlicher Unternehmen kennenzulernen. Fazit: Explizite oder implizite Altersvorgaben gibt es für fast jede Position und beim Geschlecht wird zumindest in alle Richtungen diskriminiert. Hier ein paar beispielhafte Zitate (die zugegebenermaßen teilweise schon etwas zurück liegen): „So ein Hahn im Korb würde sich unter den vielen Frauen sicher nicht wohl fühlen“, „der ist ja so alt wie ich“, „für den Zickenhaufen, wäre ein Mann als Teamleiter gut, aber vielleicht kein Hetero-Mann, das kann auch kompliziert werden, am besten ein tougher Schwuler“, „in dem Alter ist sie nicht mehr formbar“, “die Kunden sollten den Namen schon aussprechen können”. Hier findet sich ein bunter Mix aus Annahmen der Diversity-Killer-Rubriken #1 und #3 in Kombination mit Unsicherheit bezüglich der eigenen Führungskompetenz.

Diversity Killer #5: Präferenz für Ähnlichkeit

Bei der Auswahl von Nachwuchsführungskräften kann sich das „Mini-Me“-Phänomen zeigen: Die aktuellen Stelleninhaber bevorzugen Kandidat*innen, die ihnen selbst in ihrem Werdegang, Habitus und Auftreten ähneln. Ein bisschen Selbstbestätigung schadet schließlich nie. Umgekehrt orientieren Mitarbeiter mit Aufstiegsambitionen ihr Verhalten an den Führungskräften, die bereits die Wunschposition innehaben. So sorgt das System stetig für seinen Selbsterhalt. Zu Diversität und Perspektivenvielfalt kann das nur führen, wenn das Umfeld bereits vielfältig ist. 


Diversity-Killer #6: Unternehmenskulturelle Leistungskriterien 

Unternehmenskultur basiert auf Denk- und Verhaltensmustern, die sich im Laufe der Unternehmensgeschichte als erfolgreich durchgesetzt haben. Aus dem Blickwinkel eines Unternehmens ist eine Kultur dann positiv oder gut, wenn sie die Strategie fördert und zur Überlebensfähigkeit der Organisation beiträgt. Auch Zwangsarbeit oder Verstöße gegen sämtliche Arbeitsschutzregeln können in diesem Sinne „positiv“ sein, auch wenn sie unter ethischen und juristischen Gesichtspunkten verwerflich sind. Außenstehenden oder neuen Mitgliedern können die Praktiken, Annahmen und Überzeugungen einer Organisation völlig unzeitgemäß, widersinnig oder ungeeignet erscheinen, Fakt ist, dass sie einst zum Erfolg geführt haben und sich als sinnvoll für ihre Mitglieder erwiesen haben. 

War in der Vergangenheit eine bestimmte Personenkategorie erfolgreich auf einer Position (z.B. weiblich 25 – 30 Jahre), werden auch künftig immer wieder Mitarbeiter*innen des gleichen Alters und Geschlechts für diese Position bevorzugt werden. Jegliches Abweichen davon, würde ein Risiko für die Personalentscheider darstellen.

Die Definition, was erfolgreiches Handeln ausmacht, steht zudem in engem Zusammenhang mit der Leistungsbeurteilung von Mitarbeiter*innen. Ein Beispiel: Wenn es in einem Unternehmen die (bewusste oder unbewusste) Überzeugung gibt, dass vor allem die hohe Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter*innen in der Gründungsphase zum Erfolg geführt hat, so hat das auch Auswirkungen auf die künftige Auswahl und Beurteilung von Mitarbeiter*innen. Es könnte daraus z.B. abgeleitet werden, dass gute Mitarbeitende sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie viele Überstunden machen, zeitlich flexibel und jederzeit erreichbar sind. Das sind Kriterien, die Eltern mit kleinen Kindern – oft Frauen in Teilzeit –, nicht erfüllen können oder möchten. Sie werden in Leistungsbeurteilungen dieser Organisation immer schlechter abschneiden als Vollzeitmitarbeiter*innen, unabhängig von ihren tatsächlichen Arbeitserfolgen oder ihrer Produktivität. Bei Beförderungen werden sie eher nicht berücksichtigt werden. In der Folge fehlen Frauen im Talentpool für Führungspositionen auf den oberen Ebenen. Glaubt das Unternehmen dagegen, dass sein Erfolg maßgeblich auf intelligenten und innovativen Lösungen oder dem unternehmensinternen Knowhow beruht, gewinnen die Betriebszugehörigkeit und/oder Auswahlkriterien wie „Intelligenz“ oder „Kreativität“ an Bedeutung. Die Leistung von Teilzeitkräften wird in diesem Kontext weniger abgewertet. 

Diversity Killer #7: Vereinfachung & Intuition

Seien wir ehrlich: Personalauswahl auf Basis von Kriterien wie Alter, Geschlecht, Teilzeit/Vollzeit oder auch Sympathie (Foto) ist so herrlich einfach. Es bedarf dafür keinerlei Eignungstests, ausgeklügelter Bewerbungsfragen, Arbeitsproben oder komplizierter Vergleiche mit der Eignung der Vergleichskandidaten. Ein schneller oder „der erste Blick” reicht – zack, fertig, nächste Unterlage oder nächstes Interview. Vielen Auswählenden fällt es schwer, Arbeitsproben zu bewerten, wenn sie nicht wissen, wer (Alter, Geschlecht, Vorerfahrung), diese abgegeben hat. Die vollständige Anonymität von Bewerbungsunterlagen macht eine viel stärkere Rationalisierung der eigenen Bewertungsmaßstäbe notwendig. 

Bewerbungsgespräche sind soziale Situationen, in denen es ordentlich „menschelt“. Sympathie, Antipathie und Attraktivität des Gegenübers beeinflussen in Interviews unsere Beurteilung. Solange KI dort noch nicht die Macht übernommen haben (mal angenommen, diese arbeiten wirklich diskriminierungsfreier und sind nicht von Vergangenheitsdaten ge-biased), wird sich auch durch die Technik meines Erachtens nicht allzu viel verändern. Die Auswahl durch Menschen verlagert sich dann nur nach hinten. Aus dem gleichen Grund glaube ich, dass der Verzicht auf Fotos und Altersangaben auf Lebensläufen nicht allzu viel bringt, solange sich das Mindset nicht gewandelt hat.

Diversity-Killer #8: Kulturabhängige Beurteilungsfehler

Bei Personalauswahlprozessen kann es neben anderen Beurteilungsfehlern auch zu kulturabhängigen Beurteilungen kommen. Zur Bewertung der Bewerber*innen werden dann nur die für die dominante Kultur (z.B. Geschlecht, Region, Nationalität, Alter) typische oder erwünschte Verhaltensweisen herangezogen. Die Aufbereitung von Bewerbungsunterlagen, Antworten in Interviews und Verhaltensweisen, die nicht zu diesen Kulturmustern passen (z.B. wie viel Selbstdarstellung ist richtig, wie viel Bescheidenheit kulturell angebracht), werden schlechter bewertet. Auch Dialekte oder Akzente können zu einer Abwertung von Bewerber*innen führen. Stereotype verhindern dann, dass die Eignung von Bewerber*innen erkannt wird – bewusst oder unbewusst. 

Wenn diskriminierende Auswahlkriterien im Unternehmen tabuisiert sind, bleibt für die Argumentation noch der „Cultural Fit“ oder „Team Fit“. Jedes Unternehmen kann damit seine eigene Vorstellung davon ausleben, was Vielfalt eigentlich ist bzw. welcher Teil davon wichtig ist und was “nicht passt”. In den seltensten Fällen findet dabei wirklich ein Abgleich zwischen den Werten des Unternehmens und des Bewerbers statt, wie es das Konzept eigentlich vorsieht. Entschieden wird eher intuitiv oder mit Hilfe des oberflächlichen Scannens kultureller Artefakte oder Symbole wie Kleidung, Bart und Frisur, Tätowierungen, Kopftuch, anderen ersichtlichen Merkmalen wie dem Alter oder einfach Sympathie und Antipathie, woraus auf bestimmte Werte, Einstellungen oder eine „Passung“ geschlossen wird. Auch die Bewerberseite geht ganz ähnlich vor. Ein Bewerbungsgespräch funktioniert fast ein bisschen wie ein ein touristischer Ausflug: Die gut gelaunten Reiseführer*innen (Recruiter) erzählen etwas über die Vorzüge der Kultur und Location (Mitarbeiterevents, Frühstücksbuffets, Masseure, Sportangebote etc.) und stellen dem Besucher vielleicht auch ein paar (meist freundliche) Einheimische vor (künftige Kolleg*innen). Bei der Führung durch die Räumlichkeiten können die Sehenswürdigkeiten (Meeting- und Aufenthaltsräume, Kaffeemaschine, Dachgarten, Kickertische) besichtigt werden. Es ist nett, sagt aber relativ wenig darüber aus, wie sich der Alltag im Unternehmen später wirklich gestaltet.

Diversity-Killer killen:

Bei einer Beschäftigung mit Diversity in Unternehmen geht es nicht zuletzt um die Versöhnung von wirtschaftlichem Gewinnstreben mit Moral und Ethik bzw. die Ausdehnung der unternehmerischen Verantwortung über wirtschaftliche Aspekte hinaus. Die gute Nachricht: Was auf den ersten Blick als „Kosten“ aufläuft, wenn auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Mitarbeiterkategorien eingegangen werden muss, wirkt sich bei Nutzung der Potenziale der gewonnenen Perspektivenvielfalt positiv auf den wirtschaftlichen Erfolg aus, wie verschiedene Studien gezeigt haben. Unternehmen, die Maßnahmen im Bereich Diversity (Work-Life-Balance, Frauenförderung, Antidiskriminierung etc.) umsetzen, steigern damit außerdem ihre Arbeitgeberattraktivität nach innen und außen.

Um ein Bewusstsein für die positiven Aspekte von Vielfalt zu schaffen, kann z.B. in Workshops erarbeitet werden, welche (auch ökonomischen) Vorteile dem Unternehmen mit seinem spezifischen Geschäftsmodell aus einer diversen Belegschaft erwächst und wie Diversity mit den Interessen der vielfältigen Stakeholder in Beziehung steht und sinnvoll genutzt werden kann. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu überlegen, wie der Perspektivenvielfalt im Arbeitsalltag Gehör verschafft werden kann.

Solange die Geschäftsleitung Diversity nicht als wichtiges Ziel anerkennt und propagiert, wird es in den meisten Fällen schwierig werden, wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Nur wenn Vielfalt als wertvoll für das Unternehmen und seine Ziele definiert wird, können die bestehenden Prozesse und Strukturen wirkungsvoll auf mögliche Hürden untersucht und hinterfragt werden. Es ist wichtig, eine offene und sensible Kultur zu gestalten, in der über Missstände und diskriminierendes Verhalten gegenüber Mitarbeitenden gesprochen werden darf und es dafür ein offenes Ohr gibt. Dazu gehört auch, dass es erlaubt sein muss, Mitarbeitende auf ihre Biases, unsensibles oder diskriminierendes Verhalten gegenüber anderen anzusprechen, egal auf welcher Hierarchieebene die Personen sich befinden.

Bei diskriminierungsfreien Einstellungsprozessen sollte sich eigentlich automatisch eine vielfältige Belegschaft ergeben, die – bis hin zu einer vollständigen Vertretung – die Vielfalt der sie umgebenden Gesellschaft(en), Branchen und Berufsgruppen widerspiegelt, aus der das Unternehmen sein Personal rekrutieren kann. Je größer, diversifizierter, internationaler und auch älter ein Unternehmen ist, desto vielfältiger sollte auch seine Zusammensetzung sein, und zwar über alle Hierarchieebenen hinweg. 

In der Praxis ist diskriminierungsfreie Personalauswahl jedoch gar nicht so einfach, da wir alle unter bewussten oder unbewussten Vorurteilen leiden, die unsere Wahrnehmungen und Beurteilungen verzerren. Personen, die in Personalauswahlprozesse involviert sind, sollten im Bereich der Verhaltensbeobachtung und typischer Beurteilungsfehler geschult werden – nicht nur Recruiter*innen, sondern auch Führungskräfte. Schließlich ist es auch wirtschaftlich interessant, geeignete Kandidaten nicht aufgrund unbewusster Verzerrungen auszusortieren. Hilfreich, um die Selbstreflektion anzuregen, können Unconscious-Bias-Workshops im Unternehmen sein, um Stereotype sowie unbewusste Privilegierungen und Diskriminierungen bewusst zu machen.

Was braucht es noch, um Diversity-Killer zu reduzieren? Führungskräfte, die keine Angst vor der Zusammenarbeit in diversen Teams haben. Denn einfacher ist es natürlich, eine Herde an Mini-Mes zu dirigieren, die alle ähnlich ticken. Ferner ist es wichtig, Klarheit über die tatsächlichen Anforderungen von Stellen sowie die Beurteilungskriterien der Führungskräfte für die Beurteilung der Stelleninhabenden zu schaffen. Ist das Beschäftigungsverhältnis (Teilzeit/Vollzeit) wirklich ein geeignetes Beurteilungskriterium, wenn es um Leistung und Erfolg geht? Vielleicht ist die Teilzeitkraft mit 30-h-Woche trotz hin und wieder kranker Kinder wirtschaftlicher und produktiver, als eine 40-h-Kraft, die nicht ausgelastet ist. Es ist ja ein Irrglaube, dass jeder Job, der geschaffen wird, genau 8 Stunden am Tag dauert. Kann die anfallende Arbeit vielleicht auch anders verteilt werden? 

Gesellschaftliche Stereotype wandeln sich – step-by-step, durch jede Abweichung von dem, was als normal gilt, und mit jedem sichtbaren Vorbild, das es anders macht. Hierbei sind alle gefragt, die etwas verändern möchten. Jede Familie, in der die Rollenverteilung gleichberechtigter erfolgt, trägt zur Veränderung von Geschlechterrollen bei. Jedes Unternehmen, das Maßnahmen zur Vereinbarkeit entwickelt oder Menschen mit Behinderungen einstellt, ebenfalls. Neuere Studien zeigen bereits, dass die Generation Y Führungskräften nicht mehr nur männliche Persönlichkeitsmerkmale zuschreibt und das Think-Manager-Think-Male-Stereotyp an Bedeutung verliert (Arenberg/Baumgärtner 2016). Trotzdem bleibt viel zu tun. Im 23. Jahrhundert haben wir es dann aber bestimmt geschafft! Vorausgesetzt Klimawandel, Ressourcenverknappung und Überbevölkerung haben uns nicht doch noch in eine ganz andere Richtung getrieben.  

2 Comments

  1. Stefanie Albert
    Stefanie Albert

    Hi Inike, wer bietet denn solche Unconscious-biais Workshops schon an?

    Juni 10, 2021
    |Reply
  2. […] Hinweise über die gewollten oder ungewollten kulturellen Werte eines Unternehmens lassen sich dabei oft von Vergütungssystemen und Beförderungen ablesen: Wird die Teamleistung durch Sonderzahlungen belohnt oder Individualleistungen? Gibt es Überstundenzuschläge, weil Leistung vor allem in der Dauer der Arbeitsleistung liegt? Führt eine längere Betriebszugehörigkeit oder der Familienstand zu höheren Gehältern oder mehr Urlaubstagen oder entscheidet lediglich die Leistung des Einzelnen über die vertraglichen Konditionen? Wie spiegelt sich die Machtverteilung von Ebenen und Abteilungen in der Gehaltsstruktur wider? Entscheidet die Betriebszugehörigkeit, die Berufserfahrung, das Expertenwissen, Soft Skills oder Familienbande über Beförderungen? Werden Mitarbeitergruppen bewusst oder unbewusst aufgrund individueller Merkmale (z.B. Alter, Geschlecht, Familienstand ect.) von Beförderungen ausgeschlossen oder bevorzugt? […]

    Januar 22, 2022
    |Reply

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