20:00 Uhr – Déjà-vu in der Tagesschau: Wir beobachten die steigenden, sinkenden oder stagnierenden Neuinfektionen und Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19-Erkrankungen. Wird das Ziel, die Fallzahlen zu senken, durch die täglichen Reports erreicht? Sicherlich nicht. Da helfen nur Kontaktbeschränkungen, Hygienemaßnahmen, Tests und Impfungen. Die abendliche Statistik ist ein Ritual: Sie ist eigentlich überflüssig zur Zweckerreichung, erfüllt aber soziale Funktionen. Sie legitimiert die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, stellt einen Durchhalte-Appell an die Bevölkerung dar und vermittelt ein Gefühl von Kontrolle. Ganz ähnlich funktionieren viele regelmäßige Reports und Meetings in Unternehmen.
Heute geht es um das Thema Unternehmenskultur, und dazu begeben wir uns in das spannende Reich von Kulturwissenschaftlern und Anthropologen, aus deren Disziplin der Begriff ursprünglich stammt. Zahlen, Daten, Fakten werden unter dem Blick von Wissenschaftlern zu Ritualen, Unternehmensführer zu Helden und der Businessanzug zum Symbol. Das hört sich alles merkwürdig für euch an? Dann gehört ihr bestimmt zu einer anderen Berufsgruppe und habt soeben einen kleinen Kulturschock erlitten.
Oft rückt die corporate culture erst in den Fokus, wenn ein Unternehmen auf interne oder externe Veränderungen reagieren muss, schnell wächst, verschiedene Unternehmenskulturen im Zuge von Mergers & Acquisitions aufeinandertreffen oder Compliance-Verstöße sichtbar werden. Doch was ist Unternehmenskultur eigentlich genau? Und wie lässt sich das oft auf Homogenität und gemeinsame Werte bezogene Konzept mit Forderungen nach Diversity vereinbaren, einem Konzept, das gerade Heterogenität fördern will und die Vielfalt der Belegschaft als Potential begreift?
Unternehmenskultur: Was ist das eigentlich?
Der „weiche“ Faktor Unternehmenskultur gilt heute als Wettbewerbsvorteil, da er nur schwer von Mitbewerbern kopiert werden kann. Berater haben das Thema für sich entdeckt, Kultur “manage-bar” gemacht und mit harten Erfolgsfaktoren verknüpft. Kaum einer weiß noch, wo das Konzept ursprünglich herkommt.
Es gibt kein Unternehmen ohne Unternehmenskultur, auch wenn sie nicht in allen Organisationen explizit eine Rolle spielt. Kultur entsteht immer dann, wenn eine Gruppe von Menschen über einen bestimmten Zeitraum oder wiederholt zusammenarbeitet, gemeinsam etwas erlebt oder erlernt. Im zeitlichen Verlauf setzen sich bei sozialen Gruppen erfolgreiche Denk- und Verhaltensmuster durch. Es wird internalisiert „wie man hier etwas macht“ und durch Wiederholung verfestigt. So entstehen formale Abläufe, Rollen, Normen, Werte, Sprachregelungen, Vorgehensweisen, Erzählungen über erfolgreiche Organisationsmitglieder, die teilweise auch als Sollkultur in Dokumenten niedergeschrieben und bewusst kommuniziert werden. Unter der sinnlich beobachtbaren Oberfläche lebt das überwiegend unbewusste, weniger formelle, kulturelle Wissen der Gruppe, das allerdings die Entscheidungen im Unternehmensalltag nachhaltig beeinflusst. Was in dem einen Unternehmen als „richtiges“ Führungsverhalten gilt, kann im nächsten „zu soft“ oder auch „unmenschlich“ sein. Oft machen wir uns unsere eigene Kultur erst bewusst, wenn ihre Annahmen im Kontakt mit anderen kulturellen Auffassungen in Frage gestellt werden.
Kulturmodelle: Kultur ist vielschichtig
Das Konzept der Unternehmenskultur geht auf den Kulturbegriff der Kulturanthropologie zurück. Daher sind Beschreibungen und Definitionen auch stark durch die Begriffe des Wissenschaftszweigs und seiner sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen geprägt. Wir stoßen plötzlich auf Mythen, Helden und Artefakte – was sich in der Welt der betriebswirtschaftlichen Fakten ein bisschen nach Fantasy anhört. Der anthropologische Kulturbegriff ist sehr umfassend, da er aus der ursprünglichen Abgrenzung von Natur und Kultur stammt. Er ist zudem wertneutral, d.h. er steht nicht unbedingt für Verfeinerung, Kultiviertheit, geistige und künstlerische Leistungen, was im deutschsprachigen Raum oft mitschwingt. Der Begriff Unternehmenskultur ist auch nicht mit dem Arbeitsklima oder der Arbeitsatmosphäre gleichzusetzen, die sie nur als Teilaspekt hervorbringt.
Das Drei-Ebenen-Modell von Edgar Schein
Eine der bekanntesten Definitionen für Kultur geht auf den Organisationspsychologen Edgar Schein zurück (Organisationskultur und Leadership). Er unterscheidet drei Ebenen von Kultur, die sich hinsichtlich ihres Grades an Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit für außenstehende Beobachter unterscheiden. Die oberste Ebene bilden die offensichtlichen, an der Oberfläche liegenden Artefakte. Darunter liegen auf Ebene zwei die bewusst gewählten Werte, Normen und Regeln. Auf der dritten Ebene befinden sich schließlich die größtenteils unbewussten, grundlegenden Überzeugungen und Werte, die Schein auch als „kulturelle Essenz“ oder „kulturelle DNA“ bezeichnet. Mit diesem Modell lassen sich für Schein alle Arten kultureller Phänomene beschreiben.
Übertragen auf Unternehmenskulturen zählen zu den Artefakten z.B. der Unternehmensjargon, Verhaltensweisen zwischen Mitarbeitern unterschiedlicher Hierarchien, Meetings, Raumkonzepte, Dresscodes, Organisationsprozesse- und
-strukturen sowie deren Darstellungen, Technologien, Geschichten über Organisationsmitglieder, Feiern, informelle Netzwerke, aber auch Dokumente über Werte und Regeln. Die Artefakte können die Werte und Normen der darunter liegenden Schichten widerspiegeln. Ihre eigentliche Bedeutung kann aber auch längst vergessen worden sein oder ihnen sogar widersprechen. Die richtige Interpretation der Artefakte setzt immer Insiderwissen voraus.
Die bewusst gewählten Überzeugungen und Werte finden sich bei Unternehmen oft auf der Schauseite der Organisation. Häufig werden sie (als Artefakte) niedergeschrieben und z.B. auf der Website veröffentlicht. Sie bilden die Unternehmensphilosophie oder
-ideologie und erklären, warum in der Organisation etwas so gemacht wird, wie es gemacht wird. Hierzu gehören z.B. ausformulierte Verhaltensnormen, CSR-Richtlinien, Mission-Statements, der Code of Conduct, der Purpose, die Employee Value Proposition, aber auch mündliche Äußerungen über Werte. Sie beschreiben die Sollkultur, ihre expliziten Wertvorstellungen, Prioritäten und Standards und sind damit Wegweiser für gewünschtes Verhalten, auch im Zuge angestrebter Kulturwandel. Sie sagen allerdings noch nichts darüber aus, in welchem Umfang die Werte bei den Organisationsmitgliedern bekannt sind oder tatsächlich gelebt werden. Man wird auf dieser Ebene vor allem Werte finden, die innerhalb der jeweiligen Makrokultur eine positive Konnotation haben.
Die tiefste Schicht, und damit den Kern einer Kultur, bilden die unbewussten Grundannahmen, die von den Organisationsmitgliedern nur selten hinterfragt werden. Sie prägen stark die Wahrnehmung, die Gefühle und das Denken. Dazu zählen zum Beispiel Annahmen darüber, wie zwischenmenschliche Beziehungen über verschiedene Hierarchiestufen oder unter Kollegen aussehen sollen (z.B. Nähe – Distanz), Auffassungen über Geschlechterrollen, Raum und Zeit. Auch hier gilt, dass sie mit den darüber liegenden Schichten übereinstimmen oder ihnen auch widersprechen können. Zum Beispiel kann Chancengleichheit von Frauen zwar explizit gewünscht sein, implizite Annahmen über Geschlechterrollen (wer will Karriere machen oder sich bald der Familie widmen) oder gutes Führungsverhalten (Bevorzugung eines maskulinen Habitus) Aufstiegschancen aber verhindern. Auf dieser Ebene entscheidet es sich, wer in das Unternehmen passt, wer die Karriereleiter nach oben klettert, warum es das Unternehmen gibt, wie Abläufe organisiert werden, was Vorrang hat, ob das Umfeld als freundlich oder feindlich wahrgenommen wird, ob Wettkampf oder Kooperation belohnt werden. Wer innerhalb eines Unternehmens Diversity und Inclusion fördern möchte, sollte diese tiefe Kulturschicht daher gut unter die Lupe nehmen. Wie die drei Ebenen zu einander im Verhältnis stehen, habe ich hier schon einmal beschrieben.
Geert Hofstede: Werte und Praktiken – Software Of The Mind
Auch im Kulturmodell des Kulturwissenschaftlers und Sozialpsychologen Geert Hofstede sind nicht alle Kulturelemente in gleichem Maße von außen erkennbar. Zur Veranschaulichung nutzt er das Bild einer Zwiebel, wobei der innere, emotionale Kern von den Werten gebildet wird. Nach außen folgen dann – ähnlich der Artefakte bei Schein – die Zwiebelschichten Rituale, Helden und Symbole, die er als Praktiken zusammenfasst. Sie können von Außenseitern der Kultur beobachtet, aber nur von kulturellen Insidern leicht gedeutet werden. Zu den Symbolen zählen Dresscodes, Frisuren, Sprache, Gerichte, Statussymbole, Technologien. Sie verändern sich im zeitlichen Verlauf schnell und können von Mitgliedern anderer Kulturen aufgrund ihrer Oberflächlichkeit leicht kopiert werden. Helden sind Vorbilder, die lebendig, tot, real oder fiktiv sein können und eine hohe Wertschätzung innerhalb einer Kultur erfahren. Rituale sind Handlungen, die eigentlich überflüssig sind, um bestimmte Ziele zu erreichen. Sie haben in einer Kultur aber einen sozialen Nutzen und symbolische Bedeutung.
Den Kern einer Kultur bilden die Werte, die wir während unserer ersten 10-12 Lebensjahre, vor allem unbewusst, in unserer sozialen Umgebung wie Familie, Nachbarschaft und Schule erlernen. Sie werden oft als Gegensatzpaare erlernt (z.B. gut / böse). In späteren Lebensphasen lernen wir bewusster und überwiegend nur noch Praktiken. Da Werte so früh im Leben erworben werden, sind sie uns oft gar nicht bewusst. Sie können nur schwer diskutiert werden, weil hierfür die eigenen Motive, Gefühle und Tabus an die Oberfläche gebracht werden müssen. Die erworbenen Werte bestimmen unser Denken, Fühlen und Handeln, wie wir tendenziell in bestimmen Situationen reagieren oder Sachverhalte bewerten. Geert Hofstede spricht daher auch von Kultur als „Software Of The Mind“, auch wenn die mentale Programmierung unser Verhalten nicht 1:1 vorherbestimmt (Cultures and Organizations. Software of the Mind, 2010).
Durch ihre gemeinschaftliche Programmierung des Geistes unterscheiden sich Gruppen oder Kategorien von Menschen von anderen. Außenstehende können die Werte eines Kollektivs nur aus dem beobachtbaren Verhalten ableiten und nicht direkt erkennen. Die in der Kindheit erworbenen Werte zu verändern, ist schwierig, da Menschen die erlernten Gefühls-, Handlungs- und Denkmuster zunächst verlernen müssen, bevor sie neue erlernen können – und das gestaltet sich mühsamer, als etwas gänzlich Neues zu lernen. Da Eltern dazu neigen, ihre eigene Erziehung zu reproduzieren, auch wenn sie es vielleicht gar nicht wollen, verändern sich Werte innerhalb einer Gesellschaft nur langsam und über Generationen.
Unternehmenskultur und Makrokultur
Geert Hofstede beschäftigte sich zunächst mit der Frage, wie sich nationalkulturelle Unterschiede innerhalb des gleichen Unternehmens manifestieren. Ende der 1960er Jahre führte er eine empirische Studie unter IBM-Mitarbeiter*innen aller Nationen durch, in denen das Unternehmen eine Niederlassung hatte. Daraus entwickelte er ein vergleichendes Kulturmodell mit 4 Dimensionen, das er im Zuge weiterer Forschungsarbeiten auf 6 Dimensionen erweiterte (Individualismus versus Kollektivismus, Machtdistanz, Maskulinität versus Femininität, Unsicherheitstoleranz, kurzfristiges versus langfristiges Denken, Genuss versus Zurückhaltung). Anhand dieser sechs Dimensionen verglich er die kulturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten von über 90 Nationen und bildete pro Dimension Cluster ähnlicherer und unterschiedlicherer Länder.
Um das Phänomen Unternehmenskultur zu untersuchen, führte Hofestede dann später auch eine vergleichende Studie unterschiedlicher Unternehmen durch, die der gleichen bzw. einer ähnlichen Nationalkultur (Niederlande und Dänemark) angehörten. Die Untersuchung ergab, dass die Werte der Mitarbeiter*innen sich viel stärker nach Geschlecht, Alter, Bildung, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit etc. unterschieden, als nach ihrer Organisationszugehörigkeit. Dies liegt daran, dass Organisationen ein gänzlich anderes soziales System als die sie umgebenden Makrokulturen bilden. Wir wachsen nicht in ihnen auf, können in gewissem Maße selber über Eintritt und Austritt entscheiden und sind auch nur während der Arbeitszeit ein Teil von ihnen. Da wir unsere Basiswerte bereits in den ersten Lebensjahren erwerben, sind Unternehmenskulturen im Gegensatz zu Nationalkulturen weit weniger durch Werte, sondern viel stärker durch die für Außenstehende leichter zu übernehmenden Praktiken geprägt.
Allerdings können Organisationen durch unterschiedliche nationalkulturelle Werte der sie umgebenden Makrokulturen geprägt sein, und zwar zum einen über die verschiedenen Kulturträger*innen, die in ihnen arbeiten, aber auch über Management- und Organisationstheorien, die ihrem Aufbau und täglichen Praktiken (oft unbewusst) zugrunde liegen und von Autor*innen und Wissenschaftler*innen verfasst wurden, die selbst Kinder einer bestimmten Zeit, gesellschaftlicher Werte und wissenschaftlicher Paradigmen waren. Diese impliziten, manchmal aber auch expliziten Werte entscheiden z.B. über das Ausmaß, in dem es ein Gefälle an Macht und Autorität zwischen unterschiedlichen Mitgliedern geben darf (Dimension Machtdistanz), in welchem Umfang Regeln und Prozesse definiert und eingehalten werden müssen und Ambiguität toleriert werden kann (Dimension Unsicherheitstoleranz). Sie beeinflussen auch unser Denken über die Menschen in der Organisation (z.B. über Zuschreibungen auf Basis von Geschlechterrollen oder ob das Individuum oder die Gemeinschaft im Vordergrund stehen sollte).
Die kulturellen Werte, durch die das Unternehmen geprägt ist, wirken u. a. auf die Vergütungssysteme (z.B. Belohnung von Team- oder Individualleistung), Planung & Controlling, die Vorstellungen darüber, was gute Führung ausmacht (z.B. Kooperation und Bescheidenheit oder Leistungsorientierung und Durchsetzungsvermögen), wie Leistung bewertet wird, wie und ob Kritik (auch gegenüber Vorgesetzten) geäußert werden darf.
Kulturträger*innen: Kultur und Individuum
Definitionen von Kultur und Unternehmenskultur bleiben oft etwas schwammig. Das überrascht nicht, handelt es sich bei Kultur doch um ein vielschichtiges, kollektives Phänomen. Wird Kultur untersucht, handelt es sich immer um eine Schnittmenge mehrerer Individuen mit mehr oder weniger gemeinsamen oder unterschiedlichen kulturellen Prägungen, Identitäten, aber auch individuellen Persönlichkeitsmerkmalen.
Kultur ist immer erlernt und nicht durch unsere Gene vorbestimmt. Wo genau die Grenze zwischen der universellen menschlichen Natur, der erlernten Kultur einer sozialen Gruppe oder Kategorie und der Persönlichkeit des Einzelnen liegt, ist nicht eindeutig und bei Wissenschaftler*innen umstritten. Auf der Ebene des Individuums treffen auf jeden Fall verschiedene Einflüsse zusammen: Wir sind Teil der menschlichen Spezies. Im Laufe unseres Lebens müssen wir unseren Platz in verschiedenen sozialen Gruppen mit unterschiedlichen kulturellen Spielregeln finden. Wir besitzen eine Persönlichkeit, die teilweise angeboren und teilweise erworben ist, und zwar sowohl in Abhängigkeit von persönlichen Erfahrungen als auch beeinflusst von den uns umgebenden kulturellen Rahmenbedingungen.
Unternehmenskultur lebt und entwickelt sich durch die Menschen, die in den Organisationen arbeiten. Kulturträger*in ist grundsätzlich jedes Mitglied der Gruppe. Größeren Einfluss auf die Unternehmenskultur haben aber das Top-Management und die Führungskräfte durch ihre Vorbildfunktion und die Möglichkeit, die Bedingungen für kulturell „richtiges“ oder „falsches“ Verhalten zu schaffen und dieses entsprechend zu sanktionieren. Menschen planen innerhalb von Unternehmen auch ihre Karrieren. Daher passen sie ihre Verhaltensweisen an erfolgreiches Verhalten an, worauf der Organisationssoziologe Tom Burns bereits Anfang der 60er Jahre hingewiesen hat. Hier liegt auch eine der Gefahren für einen ungeplanten Kulturwandel – wenn das Führungsverhalten einer neu eingestellten Führungskraft nicht zur Wunschkultur passt und statt Kooperation z.B. Wettbewerb fördert.
In der Gründungsphase von Unternehmen wird die Kultur maßgeblich durch die Gründer*innen geprägt, die ihre eigenen bewussten oder unbewussten Annahmen und Erfahrungen mitbringen. Wenn man eine Unternehmenskultur verstehen will, ist es daher oft hilfreich, sich mit der Entstehungsgeschichte zu beschäftigen. Aber auch eine Krise, Joint Ventures oder ein Führungswechsel an der Spitze eines reiferen Unternehmens können einen Kulturwandel auslösen.
Trotz der größeren Einflussmöglichkeiten des Managements kann auch ein normales Organisationsmitglied – vorausgesetzt sein neuartiges Verhalten ist erfolgreich (z.B. Prozessverbesserung) und setzt sich in der Gruppe durch – Einfluss auf die Kultur der Gruppe nehmen. Je nach Unternehmenskultur wird das wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher sein. Gibt es z.B. ein betriebliches Vorschlagswesen, durch das die Mitarbeiter*innen Ideen einbringen können? Dann kann auch ein „kleines Rädchen“ ggf. zu wichtigen Innovationen beitragen. Der einzelne Mitarbeiter ist also immer zugleich Subjekt und Objekt der ihn umgebenden Kultur. Er wird von ihr mehr oder weniger geprägt, gibt sie an neue Mitglieder weiter und kann sie auch selbst beeinflussen.
Diversity & Subkulturen
Jeder Mensch ist einzigartig und macht die uns umgebende Gesellschaft vielfältiger. Der Begriff Diversity, über den ich in meinem letzten Blogeintrag geschrieben habe, bezieht sich dabei auf alle Arten von Merkmalen, sichtbare oder unsichtbare, angeborene oder sozial erworbene, die durch Unterschiede und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind. Sie sind miteinander verwoben und überlagern sich. Zu den Primärdimensionen von Vielfalt, die eine gefühlsmäßige Verbundenheit und Zuschreibung von außen zu bestimmten Gruppen oder Kategorien von Menschen begründen können, zählen das Geschlecht, das Alter, die soziale und ethnische Herkunft und Nationalität, Weltanschauung/Religion, die sexuelle Orientierung sowie die körperliche und psychische Verfassung. Im Unternehmenskontext können auch Sekundärdimensionen identitätsstiftend wirken, wie z.B. der Familienstand, die Abteilungszugehörigkeit, Ausbildungshintergrund und Berufsgruppe, Hierarchien oder die Art des Vertragsverhältnisses (intern, extern, Teilzeit, Vollzeit).
Der Einzelne kann verschiedene Identitäten ausbilden und mehreren Gruppen und Kategorien zur gleichen Zeit angehören, z.B. weißer, protestantischer Mann der Generation X mit mittlerem Bildungsniveau, ländlicher Herkunft und Anhänger eines bestimmten Fußballteams. Innerhalb einer Organisation kann er eine Identität als Führungskraft, Mitarbeiter und HR Manager ausbilden. Identitäten können sich im Laufe des Lebens einer Person verändern. Sie sind in der Regel explizit und rücken je nach Kontext in den Vorder- oder Hintergrund.
Nach Hofstede beruhen Identitätsunterschiede häufig auf Praktiken und nicht unbedingt immer auf Werten. Auch Gruppen mit ähnlichen Werten können unterschiedliche Identitäten ausbilden und darüber miteinander in Konflikt treten. Basiswerte, die wir früh im Leben erwerben, und die nur schwer veränderbar und hinterfragbar sind, betreffen vor allem das Geschlecht, die Kultur des Landes, in dem wir aufwachsen, die ethnische Zugehörigkeit sowie Religion/Weltanschauung. Kulturschichten, die später im Leben erworben werden, lassen sich leichter verändern. Zum Beispiel könnte der HR Manger aufgrund einer spät entdeckten Liebe zu Zahlen (klingt an den Haaren herbeigezogen, gibt es aber bestimmt) zum Controller umschulen und neue, berufsspezifische Helden, Symbole und Rituale übernehmen.
Je größer und internationaler ein Unternehmen ist, desto vielfältiger und heterogener ist in der Regel auch die Mitarbeiterstruktur. Im Laufe der Zeit können sich Subkulturen entlang von Berufsgruppen, Standorten, informellen Netzwerken, Betriebszugehörigkeiten, Hierarchieebenen, ethnischen Gruppierungen, Geschlechtern oder Generationen bilden.
Unternehmenskultur: Gemeinsame Identität über Praktiken
Zurück zu unserer Ausgangsfrage: Wie viel Heterogenität darf es innerhalb von Unternehmen geben? Wie wichtig sind gemeinsame Werte der Belegschaft? Kann die Unternehmenskultur bei so viel Heterogenität überhaupt noch als „Kitt“ dienen, der alles zusammenhält, die Mitarbeiter auf die Unternehmensziele ausrichtet oder sogar Sinn vermittelt? Die Antwort liegt im Begriff „Werte“, der mit ganz unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird. Nach Hofstede müssen nicht alle Organisationsmitglieder ihre (Basis)-Werte teilen. Zwar prägen die Werte der Gründer*innen oder einflussreicher Führungskräfte in der Regel die Organisationskultur, aber nicht, weil die Mitarbeiter*innen deren Werte übernehmen. Die Unternehmenskultur wird vielmehr über die Etablierung gemeinsamer Praktiken (Symbole, Helden, Rituale) gestaltet. Auch interkulturelle Teams, deren Mitglieder durch unterschiedliche Makro-Kulturen oder andere früh erworbene Kulturschichten geprägt sind, können daher über gemeinsame Praktiken funktionieren und eine gemeinsame Gruppenidentität entwickeln.
Diversity kann einen Mehrwert für Unternehmen stiften, wenn diese die Potentiale einer vielfältigen Belegschaft strategisch nutzen. Um Diversity im Unternehmen zu verankern, muss eine Unternehmenskultur etabliert werden, die Vielfalt möglich macht, wahrnimmt und wertschätzt. Folgt man dem Kulturmodell von Geert Hofstede heißt das, vor allem die Praktiken zu gestalten: Symbole, Helden und Rituale müssen sich durch Aufgeschlossenheit, Inklusion, Toleranz, Respekt und Fairness gegenüber Vielfalt auszeichnen. Bei Edgar Schein setzt der kulturelle Wandel im ersten Schritt bei der Bewusstmachung von Diversity als „Wert“ auf der 2. Ebene des Kulturmodells an. Dies reicht jedoch nicht aus. Es sollten auch passende Artefakte entwickelt und Hemmnisse, die auf der 3. Ebene der unbewussten Grundannahmen liegen, beseitigt werden.
Wie divers ein Unternehmen im Hinblick auf seine Mitarbeiter aufgestellt ist, entscheidet sich in großen Teilen über die Personalauswahlprozesse und die ihnen zugrunde liegenden Auswahlkriterien. Auf der anderen Seite wird es trotz der grundsätzlichen Anpassungs- und Lernfähigkeit der Menschen für den Einzelnen immer Unternehmen geben, in denen er sich wohler oder unwohler, passender oder unpassender fühlt, bessere oder schlechtere Entwicklungschancen hat. Im nächsten Beitrag auf diesem Blog geht es daher um den „Cultural Fit“ in der Fremd- und Selbstauswahl im Recruiting sowie die Frage, ob Kultur eigentlich messbar ist.
Du willst keinen Beitrag von MISSION SUSTAINABLE mehr verpassen? Melde dich gleich über die Seitenleiste zum Newsletter an.